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Geschichts-Schreibung ist immer auch nachträgliche Kanonisierung (oder zumindest versuchte Kanonisierung) einer bestimmten Form der Geschichts-Deutung. Das gilt auch für Populärkultur und Popmusik – die Kanonbildung wird hier sogar besonders exzessiv betrieben (nennt sich „Listenbildung“).
In der kanonisierten Geschichtssschreibung werden Beeinflussungs- und Entwicklungszusammenhänge oft in einer ziemlich enggeführten Weise behauptet. Was wichtig und was unwichtig für den Lauf der Geschichte war und ist, scheint hier immer sehr eindeutig zu sein.
In Wirklichkeit sind die Dinge aber komplizierter, gerade in der Popkultur. Abseitiges, das zunächst kaum rezipiert wird, dringt irgendwann und irgendwo an die Oberfläche und beeinflusst plötzlich den Mainstream. Es gibt eine Unzahl solcher Phänomenen, auf die sich eine regelrechte Gegen-Geschichtsschreibung (also eine gegen die kanonisierte Sicht der Dinge gerichtete Geschichtsschreibung) gründen könnte. Greil Marcus ist in seinem Buch „Lipstick Traces“ solchen Spuren gefolgt.
Phänomene wie „Krautrock“ oder Bands wie Neu! und Can spielen im von der Mehrheit dieses Forums geteilten und von den Meinungsführern vertretenen Kanon offenbar keine große Rolle (falls mein Eindruck trügt, bitte widersprechen). Zugleich fällt aber auf, mit welcher faszinierenden Regelmäßigkeit sich immer wieder Musiker enthusiastisch, fast missionarisch begeistert auf Bands wie Neu! und Can berufen. Nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit (und aus der „Spex“ – im „Rolling Stone“ liest man über derlei weniger): Geoff Barrow (Portishead) und der klügere Oasis-Bruder.
Langer Rede kurzer Sinn: Mag sein, dass Some Velvet Morning bei seinen Beiträgen in diesem Thread hier und da die Bedeutung von Gruppen wie Neu! überhöht und überzogen hat – ich finde solche Versuche einer Gegengeschichtsschreibung wider den Forumskanon dennoch höchst anregend. In diesem Sinne: danke schön!
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