Antwort auf: ECM Records

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gypsy-tail-wind
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Da der Thread hier gerade so schön wiederbelebt wird, hole ich mal die Posts zu den Marilyn Crispell Trio-Alben auf ECM hier rüber, die vor ein paar Monaten im Hör-Thread versanken.

Marilyn Crispell/Gary Peacock/Paul Motian ‎- Nothing Ever Was, Anyway: Music Of Annette Peacock (ECM 1626/27, 1997)
Marilyn Crispell/Gary Peacock/Paul Motian – Amaryllis (ECM 1742, 2001)
(das dritte Album, „Storyteller“ – Records ECM 1847, 2004 – mit Mark Helias am Bass, war nicht Teil der Diskussion, gehört aber nicht vergessen!)

gypsy tail wind

Gestern Beckett’sche Nachmusik, Stasis im Geiste Paul Bleys … und Jimmy Giuffres? Und natürlich Annette Peacocks, keine Frage. Unendlich faszinierende Musik, die den Kosmos fortspinnt, den Paul Bley – mit Kompositionen Carla Bleys und Peacocks an der Wende der Sechziger zu den Siebzigern erstmals konkretisierte.

gypsy tail windIch bin nochmal bei der Beckett’schen Stasis des Peacock/Bley-Kreises, den Marilyn Crispell hier quadratiert … zugänglich ist das eigentlich nicht, aber das schlaue daran ist ja gerade, dass das Sperrige sich hinter einer scheinbaren Zugänglichkeit versteckt (die zweite Quadratur, wenn man will).

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Gemäss Crispells kurzem Text im Booklet (einen weiteren gibt es nicht) hat Manfred Eicher hier für die besten Momente gesorgt: „Manfred suggested that we play some slow free pieces“. Insgesamt ist das hier wohl etwas heftiger als das erste Album des Trios, was dem Stillstand ja keineswegs widersprechen muss – denn heftiger heisst nicht bewegter, und selbst wo es bewegt ist, fehlt Zielgerichtetheit. Das ist – die Lektion hat Paul Bley wohl bei Jimmy Giuffre gelernt (wie Carla da mit drinhing weiss ich nicht, aber ich nehme an, Annette war dann die Meisterschülerin, die in mancher Hinsicht den Meister überflügelt, ihn mit Material gespeist hat, das ihn neue Höhen erklimmen liess). Crispell kenne ich zu schlecht, als dass ich von ihr je erhofft hätte, dass sie solche Musik im Geiste Paul Bleys und Annette Peacocks machen würde (damals, in den späten Neunzigern, eh noch nicht, aber Annette Peacock und das Cikada String Quartet durfte ich 2001 live erleben, ich gehörte zur Hälfte des Saales, die gefesselt in den Stühlen sass, die andere Hälfte ging).

Ich muss mich wohl mal um eigene Aufnahmen von Cripsell von vor 1990 oder so kümmern.

Eine Konzertkritik des Abends mit Peacock (und Susanne Abbüehl, die den Abend öffnete – auch sie war damals richtig gut) gibt es online – danach gab es auch noch Shirley Horn, eine wahre Sternstunde:
http://www.nzz.ch/article7R481-1.492359
Sehr witzig, der gute Liebmann (r.i.p.), er hat wohl Annette Peacock – die Eintönigkeit ist Programm, ein falsches Weinen ist kein Gefühl, auch wenn es „an experience“ war, aber Gefühle sind nicht vorgesehen, auch kein Schwenk ist bewegte Laub, wir sind hier nicht bei Douglas Sirk! – überhaupt nicht begriffen, aber wer will es ihm schon verübeln.

vorgartenwas crispell angeht, tun ihr die bley-vergleiche ein bisschen unrecht, finde ich. sie hat halt auch etwas viel dynamischeres, tayloreskes, das kommt eben bei AMARYLLIS sehr raus. ich finde sie einfach eine wahnsinnig komplette pianistin, energetisch etwas ungreifbar, manchmal auch nicht wirklich kommunikativ. ich bilde mir immer ein, das neuenglische bei ihr zu hören, so was hart gewordenes romantisches, was sich manchmal selbst sehr infrage stellt. ich kenne dummerweise den annette-peacock-tribut nicht, das muss ich nachholen.

gypsy tail windDas wollte ich gar nicht – mir ist bewusst, dass Crispell sehr viel kann! Ich habe sie live gehört mit Henry Grimes (nur meine Meinung, und es tut mir auch wirklich leid, aber: der ist hinüber) und Andrew Cyrille, ich schätze das erste Duo-Album mit Gerry Hemingway auf Intakt sehr (das neue kenne ich noch nicht, wurde erst vor kurzem zufällig darauf aufmerksam, als Schweizer muss man Intakt-CDs ja dämlicherweise re-importieren wenn man sich nicht – qua überrissene Preise – als Mäzen betätigen will) … und dann sind all die grossartigen Aufnahmen mit Braxton! Da macht Crispell Dinge, die Bley niemals machen würde, das sind völlig andere Welten!

Was halt verblüffend ist, und so gesehen ist der Kommentar über das Peacock-Album (das ich auch erst seit etwa eine Jahr habe) ein dickes, fettes Lob: dass die da einfach so reinspaziert kommt, und quasi Bley auf seinem home turf wenn nicht überflügelt so doch mit ihm völlig gleichzieht (natürlich auch, indem sie aus dem Bley/Peacock-Konzept was eigenes macht!), dass sie auch das, diese Musik, kann – klar, man kann das auch als weichgespülte ECM-Romantik sehen, man mag das beim oberflächlichen Hören auch tun (die Post-Bill-Evans-Ecke, noch etwas weisser und impressionistischer etc.), aber das würde dieser Musik wirklich überhaupt nicht gerecht.

soulpopeInteressanrt wie Du die Peacock Scheibe siehst, ich nannte Crispell hier „nahbarer“ was Du in Deiner Replik als primären Eindruck der das Komplexe/Sperrige verdeckt beschrieben hast (oder so ähnlich) – IMO spielt hier Crispell Kompositionen welche aus ihrer Geschichte Standards sind und beschäftigt sich mit dem Material auch mit einem gewissen Respekt (?) …. weichgespült ist das ECMseitig gar Nichts und falls dies ein Fragezeichen geblieben wäre so wird dieser Eindruck durch die labeleigene Folgeproduktion „Amaryllis“ – wie wohl auch hier mit Kompostionen von Peacock und Motian aus den 70ern/80rn auch sowas wie Standards Bearbeitung finden – de facto weggeblasen ….

gypsy tail wind@soulpope: ich habe kein Problem, Deine Wahrnehmung der Crispell-ECM-Alben nachzuvollziehen, ganz und gar nicht … ich glaube bloss, dass sie hinter ihrer nahbaren Fassade, hinter dieser Zugänglichkeit (die eben auch – das meinte ich mit weichgespült – eine Einsortierung in das grosse Post-Bill-Evans-Jazz-Piano-Kontinuum erlaubt) noch sehr viel mehr versteckt. Respekt höre ich da dann z.B. gerade nicht mehr sondern ein völlig souveränes Verfügen über das Material (Zurückhaltung ist Teil des Konzeptes, die Musik lässt ja keinen Rückschluss auf Emotionen zu, daher auch mein Amüsement über Liebmanns Sätze zum Peacock-Konzert … der vermeintliche Konnex von Erlebtem/Gehörten und Gefühltem ist eine Sackgasse bzw. ein Verwirrspiel, es gibt keine Referenz, sie wird höchstens suggeriert, es werden Fährten gelegt, aber wenn man ihnen folgt gibt es eben nicht den Schwenk ins bewegte Laub des Baumes und alles ist klar, sondern der Schwenk dreht in den Abgrund, ins Nichts – und da kommt dann wieder Beckett ins Spiel).

soulpopenun Respekt ist möglicherweise zu einschränkend formuliert, die Kompositonen von Peacock sind wahrscheinlich (hier vermuten wir bei unseren Interpretationen wohl öfter …..) Teil ihrer absolvierten Lebensschritte …. ich spüre die Referenzen hier schon, ausser die Deinerseits monierte Suggestivkraft beeinflusst meine Wahrnehmung ….

gypsy tail windIch kann es nicht besser formulieren, aber es scheint mir ein Spiel mit den Konventionen (zu denen „festmachbare“ Emotionen und Bezüge zählen). Im Kino hat Antonioni das vorgeführt, am schönsten wohl in „L’eclisse“, die „Zitate“ aus dem Fundus des klassischen Melodrams (daher meine mehrfache Erwähnung von Douglas Sirk), der berühmte Schwenk vom Gesicht der Hauptperson (mit der man gerade fürchertlich leidet und von Empathie fast zergeht) raus aus dem Fenster in die Baumkrone, dazu auf der Tonspur der Wind, das Rascheln der Blätter … die billige Darstellung der Bewegtheit, die Externalisierung der inneren Zustände. Natürlich ist das polemisch, natürlich geht auch guter Small Group Swing oder Hard Bop über sowas hinaus, aber es geht halt in der Linie, die ja vom Blues, vom Gospel, vom Spiritual, vom Work Song her kommt, ja doch immer wieder um die Darstellung, um die Abbildung, um das Erzählen von Geschichten. Damit wird hier gebrochen. Antonioni macht den Schwenk in die Baumkrone auch, aber die Einstellung externalisiert nichts, es gibt keine eindeutige Referenz. Die Emotion ergibt sich aus diesem Vakuum, dieser Leere, die auf den Zuschauer übergeht, und der mit dieser Geste, dem Zitat des Abgedroschenen, natürlich auch wieder auf Spur gebracht wird … doch das, was sich abspielt, bleibt im Zuschauer selbst, Monica Vittis Gesicht bleibt Maske, unlesbar, derweil Alain Delon schon zu Lebzeiten wie ein Toter (also wie ein Untoter) im Sessel hängt.

So möchte ich die Musik deuten, wie Paul Bley sie – und da spielt sicherlich auch die Zeit Bleys mit Jimmy Giuffre eine wichtige Rolle – auf Basis der Stücke, die Carla Bley und später – noch symbiotischer – Annette Peacock schrieben, spielte: als Musik, die quasi den leeren Tisch bespielt, Musik die über dem Abgund schwebt. Dass sie eine Spielerische Komponente hat, nimmt ihr wiederum keineswegs den Ernst oder besser: die Ernsthaftigkeit (man kann auch im Witz, erst recht in der Ironie oder im Sarkasmus ernsthaft sein). Die Musik ist quasi ein Geworfenes und sie wirft den Zuhörer ihrerseits heraus aus der eigenen Komfortzone. Es ist – so zumal auf dem Peacock-Album Crispells, auf „Amaryllis“ auch, in den langsamen Stücken, den freien Improvisationen, gerade im grossartigen Titelstück – auch eine Musik ohne Anfang und ohne Ende, es ist quasi Musik, die schon vorbei ist, wenn sie beginnt, oder die erst beginnt, wenn sie längst vorbei ist. Nun ist es natürlich nicht so, dass diese Leere nicht voller möglicher Emotionen steckt – aber sie liegen nicht in der Musik, sie werden durch die Klänge quasi erst erzeugt, sie sind nicht – das wäre das Melodram – in der Musik an sich angelegt (darum singt Peacock auch mit völlig emotionsloser Stimme, und wenn sie im Zürcher Konzert Sprüche klopfte und weinte – oder auch nicht, ich konnte das natürlich nicht sehen -, dann ist das eher ein Auf-die-Spitze-treiben von alledem als eine genau so zu verstehende Sache … aber auch da: eigentlich ist das Uneigentliche, dass dem allem innewohnt sehr viel ernster als das Eigentliche es jemals sein könnte).

Und klar: im Blues ist das Ziellose *auch* schon angelegt, die Endlos-Schleifen, das aus der Fuge geratende Metrum, die Form, die immer wieder gesprengt, völlig geöffnet wird, oder im Bild: der Schaukelstuhl bewegt sich zwar unentwegt, aber um an ein Ziel zu kommen, ist er nicht sonderlich gut geeignet. Diesen Bezug werden auch ein Paul Bley oder eine Marilyn Crispell nie ganz los, er schwingt – oder schaukelt – immer mit.

vorgartenfinde ich alles toll hergeleitet, soweit ich es verstehe. mir würde es auch einen weg zum späten bley öffnen, glaube ich. und trotzdem muss ich wohl erst die besagte crispell-peacock-aufnahme finden.
ich glaube ja, dass manfred eicher deine darstellung einer nicht-narrativen, nicht unmittelbar semantisch herleitbaren musik (und den L’ECLISSE-vergleich) gerne als text für sein gesamtprogramm nehmen würde ;-)

gypsy tail windIch hab das im Kern von Diedrich Diederichsens Aufsatz aus dem Band „ECM: Eine kulturelle Archäologie“ … etwas ausgebaut, ergänzt, der Eclisse-Vergleich und das ganze filmische kommt von mir. Ich finde, Diederichsens Aufsatz im Buch bringt das alles sehr schön auf den Punkt, er setzt mal bei Mal Waldron an (Waldron > Bley ist ja so abwegig auch nicht, aber das baut er nicht aus, Waldron war halt ECM #1) und macht diesen „strain“ der ECM-Geschichte dann an „Ballads“ von Bley fest, das ich mir in diesem Licht unbedingt auch wieder einmal anhören muss – das Ding ist ja schon enorm faszinierend, weil es genau diese anfang- und endlose Musik einfängt, wohl zum ersten Mal (wobei ich mir nicht sicher bin, ob man das nicht bei Giuffre schon finden kann, Diederichsen erwähnt ihn, das Trio mit Bley und Swallow zwar, aber auch darauf geht er nicht in der gebotenen Ausführlichkeit ein, „Free Fall“ kommt nicht zur Sprache, ist ja ein ECM-Buch … wobei Diederichsen sich auch einen Seitenhieb gegen das später typische Coverdesign (Berge und See, Meer und Mond, der Kram) erlaubt). Anyway, wie man wohl merkt, leuchtet mir das alles sehr ein. Und es gibt wohl diverse ECM-Alben oder -Künstler, bei denen man ähnliches Aufspüren könnte (ich muss mir das alles mal anhand von Paul Motian näher überlegen, zum Beispiel, dessen Musik bewegt sich ja auch nirgends hin, so wenigstens mein Gefühl, schon seit langem übrigens, nicht eine nachträglich durch die Diederich’sche Optik aufgepflanzte Sichtweise).

Das Diederichsen-Buch habe ich mir neulich in Köln für einen Zwanziger gekauft, hier im Forum gab es ja einen Hinweis darauf, dass es verramscht würde. icculus war es, der darauf hingewiesen hat, hier der Link:
https://www.jpc.de/jpcng/books/detail/-/art/Manfred-Eicher-ECM/hnum/1451190
Beim bösen A-Kapitalisten kostet es doppelt so viel, ich fand es in einem dieser seltsamen Antiquariate/Buchramschläden (die gibt es hier nicht oder nicht mehr).

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