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Lester Bowie – The Great Pretender (ECM 1209, 1981)
Lester Bowie: trumpet; Hamiet Bluiett: baritone saxophone; Donald Smith: piano, organ; Phillip Wilson: drums; Fontella Bass:vocals; David Peaston: vocals
Ich habe mir gesagt, „Was interessiert mich heute mein Geschwätz von gestern?“ und diese LP tief aus dem Plattenschrank hervorgekramt. Und tatsächlich widerspricht sie fast allem, was ich hier zu ECM von mir gegeben habe.
„Does humor belong in music?“ (Frank Zappa) Für diese Platte kann man das entschieden bejahen, wobei Spaß und Ernst hier schwer voneinander zu trennen sind. Das knapp 17-minütige Titelstück beginnt fast sakral und entwickelt sich zu etwas, bei dem nicht mehr zu entscheiden ist, ob es ein Tribut an oder eine Parodie des alten Doo Wop-Gassenhauers von The Platters ist. Jedenfalls bleibt dabei kein Stein auf dem anderen, so sehr wird Stück auseinandergenommen und anders wieder zusammengesetzt. Mit Howdy Doody Time folgt der theme song einer 50er Jahre TV-Show für Kinder und When The Doom (Moon) Comes Over The Mountain hört sich gar nicht so unheimlich (oder romantisch) an wie der Titel verspricht, sondern eher so, als würde die Band von James Brown die Treppe runterfallen. Vergleichsweise geordnet fängt dann Seite zwei mit dem Latin-Stück Rios Negroes an, aber auch da verkneift sich Lester Bowie nicht das eine oder andere Augenzwinkern in Richtung Dizzy Gillespie oder Bubber Miley. Die letzten beiden Stücke Rose Drop und Oh, How The Ghost Sings klingen dann wie frei improvisiert, sind mehr Klang und Atmosphäre als Struktur, geheimnisvoll schwebend und mäandrierend. Wie Sun Ra in Superzeitlupe und in der Echokammer. Ja, und da klingt es dann wieder sakral.
Ein ganz schöner Kessel Buntes also, der dem Hörer schon was abverlangt. Alles andere als Entspannungsmusik. Man wünscht sich fast, dass Lester Bowie daraus eine Doppel-LP gemacht hätte, um die Fülle und Verschiedenheit der Musik, die Pendelausschläge in die verschiedenen Richtungen, vom Sakralen zum Profanen, vom Ernsten zum Albernen, vom Free Jazz zum Pop noch mehr auszukosten.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)