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Guten morgen!
newk(…) Aber immerhin hat Watson ja mein Problem mit manchen ECM-Aufnahmen schön auf den Punkt gebracht: „the sound of the middle classes falling asleep.“
Das ist etwas, was bei mir eine reflexhafte ECM-Abwehrreaktion auslöst. Die ästhetische Stilisierung des Universums ECM lässt bei mir Bilder vom Designer-Sofa, der 500 Euro-Espressomaschine, der ZEIT auf dem Beistelltisch und dem Volvo in der Tiefgarage aufkommen. Und wenn der erfolgreiche Anwalt, Architekt oder Redakteur nach einem anstrengende Arbeitstag nach Hause kommt drückt er auf die Fernbedienung und die Stereoanlage verwöhnt ihn mit Keith Jarrett.
Vorurteile, ich weiß, und gerade die von mir erwähnte INSIDE OUT eignet sich gar nicht als Entspannungsmusik. Aber die corporate identitiy von ECM sagt mir in ihrer konsequenten minimalistischen und vorzugsweise s/w-Grafik schon „Ich bin ein geschmackvolles Premiumprodukt für Leute mit Bildung und Stil.“ Die Klangästhetik dahinter spricht die gleiche Sprache. Manufactum für Augen und Ohren.
Wobei: Ich will das gar nicht mal negativ bewerten. Auch ECM ist eine Marke, die sich am Markt behaupten muss, indem sie sich von anderen Marken abhebt. Und klar: ECM ist eine Premium-Marke, die über herausragende Qualitäten verfügt. Ob ich selbst zur Zielgruppe gehöre oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Und ob die Musik auf ECM dem entspricht, was als visuelle Botschaft bei mir ankommt, ist nochmal eine andere Frage. Ich bin halt jemand, der dazu neigt, das Visuelle und das Akustische miteinander zu verbinden, aus der Oberflächenästhetik Bedeutungen ableitet, der überall Codes und Botschaften vermutet und bei dem sich das zu einem größeren Bild verbindet. Ich unterstelle jetzt mal: Das gleiche hat auch Manfred Eicher im Sinn. Und er hat Erfolg damit.
Btw: BLUE NOTE hat ja auch sehr erfolgreich eine corporate identity verfolgt, die bis heute funktioniert.
vorgartenbeides (deine überlegung und diese frage) sind mir persönlich zu kulturkritisch, aber für den zusammenhang von konservierung und improvisierten moment und die spezifische klanggestaltung von ecm schon interessant. trotzdem diesbezüglich auffällig: wie sehr der frühe katalog von ecm aus freien kollektivomprovisationen besteht.
Kulturkritisch? Vielleicht. Aber ich bewerte das ja erst mal gar nicht, ich stelle nur fest, dass es so ist. Es hat ja auch einen großen Vorzug, auf repeat drücken zu können. Ich denke, die Flüchtigkeit vor allem improvisierter Musik fordert den Impuls, diese Musik aufzeichnen zu wollen, geradezu heraus.
gypsy tail windUnd auch noch zur Frage der Aufnahme – da war mein Reflex auf Friedrichs Post schon: ach, wie trivial. (Im Sinne von: ist schon einige Jahrzehnte her, dass das Thema bekannt ist, der Widerspruch gerade des Festhaltens des flüchtigen Augenblickes beginnt doch mit den ersten Jazzaufnahmen wenn nicht mit der Tonaufnahme überhaupt, es ist ja ein Irrtum, dass Musik ohne Improvisation statisch und reproduzierbar ist.)
Schönen Dank!
Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf als ich merkte, das funktioniert jetzt nicht, diese Platte hören und nebenbei die Nudelsoße umrühren.
Ich wäre einer der letzten, die einen vérité-Approach fordert. Eine Aufnahme ist immer ein Artefakt und für jemanden wie mich, der mit Radio, TV, Schallplatten etc. ff. aufgewachsen ist, ist konservierte Musik Normalität. Das Medium von Popmusik (und nicht nur der) ist der Tonträger!
Manfred Eicher ist eigentlich nur konsequent, wenn er als Label-Chef die von ihm produzierten Tonträger ganz bewusst gestaltet, sowohl was die akustische als auch was die visuelle Ästhetik betrifft.
vorgartenaber – wenn ich das richtig gelesen habe – hat friedrich ja gar nicht auf repeat gedrückt, sondern den moment unaufmerksam verstreichen lassen…
Gut beobachtet! Aber ich weiß, dass ich auf repeat drücken kann – wann immer ich will.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)