Re: Internationales Kino | 2000 – 2009

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tolomoquinkolom

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Beiträge: 8,651

ursa minorKannst du hierzu kurz was sagen, tolo?

9 SONGS – Michael Winterbottom [Großbritannien, 2004]

Ich habe immer gehört das sei ein Softporno und außer Sex hätte der Film nicht viel zu bieten … Was macht ihn für dich sehenswert? Ich habe ihn bisher gemieden.

Ich mag den Film sehr; er wäre sonst auch nicht auf meiner Liste. Only unhappy people are bad dancers.

Für mich ist 9 SONGS ein (inszenierter) Dokumentarfilm über ein junges, leidenschaftliches Paar, über Lust ohne Liebe. Und natürlich Rock & Roll; sowohl im übertragenen, als auch im ursprünglichen Sinn. Der knapp siebzigminütige Film ist die filmische Umsetzung eines aufrichtigen Rocksongs. Denn passiert hier nicht exakt das, worüber in vielen wichtigen Songs der Rockgeschichte gesungen wird?

Von Primal Scream, den Von Bondies, Black Rebel Motorcycle Club, Super Furry Animals, Dandy Warhols oder Franz Ferdinand sollte man sich nicht ablenken lassen. Die Bands haben für den Film keine wirklich entscheidende Bedeutung und stellen lediglich den Zeitrahmen für die Story, der den Ablauf eines ganzen Jahres aufzeigt, dar. Allerdings sorgen die Bands für stimulierende Momente während und nach den Konzertbesuchen. Kennt man ja.

Nein, 9 SONGS ist wohl eher kein Pornofilm. Dazu fehlen ihm Überspanntheit, Monotonie und Lustlosigkeit an der Lust. Ich kenne nur wenige Mainstream-Filme, in dem es „echten“ Sex zweier Schauspieler auf eine solch entspannte Weise gibt bzw. gab. Michael Winterbottom hat hier ein Experiment gewagt, indem er versucht mit filmischen Mitteln und zusammen mit zwei Darstellern, die dazu bereit waren, den sexuellen Phantasien literarischer Autoren nahe zu kommen. Winterbottoms Ansatz: Weshalb sollte die Deutlichkeit des Gedruckten einem Filmautor verwehrt bleiben?

Es gibt kein Gelaber in diesem Film, sondern normale Sätze aus dem „echten“ Leben. Die sind zwar mal weniger toll, dafür aber keine aufgesetzte Rezitation mit wechselnden Einsätzen. Und es gibt eine Menge Humor:

Sie: You look like a gangster, like that
Er: I’m trying to look like a gangster
Sie: You look ugly
Er: I’m trying to look ugly

Es geht um Landschaften; körperliche wie geographische. Die Arktis taucht übrigens nicht zufällig in diesem Film auf. Sie ist einerseits lokale und berufliche Realität (des männlichen Protagonisten), steht aber ebenso als Metapher für die Gefühlskälte der handelnden Personen. Nicht umsonst hieß der Film während der Produktionsphase ICE. Wie bereits erwähnt, geht es in 9 SONGS um Jungsein, Leben, Sex und Musik. Wohlgemerkt nicht um Liebe. Beide Hauptdarsteller (Kieran O‘Brien und Margo Stilley) leisten sich einen ehrlichen und ungekünstelten Umgang miteinander, soweit dies bei einer inszenierten Story überhaupt möglich ist. Winterbottom macht hier, was er auch in anderen seiner Filme tut: Er schafft eine Verschmelzung von Dokumentarfilm mit Spielhandlung. Damit meine ich nicht so sehr die eingeschobenen Live-Auftritte diverser Brit-Bands, sondern den Film an sich.

9 SONGS halte ich für einen bedeutenden, mutigen Kinofilm, der durch die Medien leider wahlweise nur durch die interpretierte pornographische oder die musikhistorische Sicht wahrgenommen wurde. Wenn ich gelegentlich wieder jemanden vom „Packeis der Gefühle“ reden höre, drängt sich mir immer dieser Film auf. Ist eigentlich aufgefallen, dass auch die Länge des Films mit „69“ Minuten eine gewisse Bedeutung hat?
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