Re: Country – eine reaktionäre Musik?

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tolomoquinkolom

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ricochetDas sagt offenbar ein großer Kenner der Szene, der sich intensiv mit den Lyrics der zeitgenössischen Country-Musik auseinandersetzt. Wie sagte Obama so schön bei Brad Paisley’s Konzert im Weißen Haus? „Country music tells stories about life“ und genauso ist es – die Texte oszillieren zwischen ausgelassenen, unbeschwerten Momenten und ernsten, zeitkritischen Themen mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Mehr als in allen anderen populären Musikrichtungen dominiert in der Country Music der Novelty Song, ein oft partygerechter, augenzwinkernder Titel, der Alltagszustände karikiert oder gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen auf die Schippe nimmt.

Die überwölbenden Themen waren zu allen Zeiten Partnerschaft, Selbstzweifel und die klassischen Blue-Collar-Issues (Arbeitswelt), aber auch regionale und klischeehafte Bezüge prägen die meist humorvollen Texte (Trucks, Rednecks, Honky Tonks). Eine Untersuchung des Marktforschers Arbitron hat übrigens zutage gefördert, dass sich die republikanische und demokratische Hörerschaft der Country-Stationen in etwa die Waage halten und das klassische Rock-Publikum zunehmend in Richtung Country abwandert. Mich würde interessieren, wo moderner Rock, Hip-Hop oder Top-40-Pop die systemkritischen Akzente setzt, die du im Country-Bereich vermisst.

Was den „Heimatbegriff“ angeht befindet sich Deutschland in einer eher desperaten Situation; im von den Medien beherrschten öffentlichen Raum wird jedweder Form traditioneller, deutschsprachiger Musik die Existenzgrundlage entzogen respektive die Entwicklungsmöglichkeit genommen, die sie zur Selbsterneuerung und Qualitätssicherung dringend benötigt, während internationale, teenieaffine Chartmusik nahezu unreflektiert adaptiert wird und sich „deutscher Pop“ pflichtschuldig im Weltschmerz suhlt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen ist Deutschland gerade im Begriff, auf dem Rücken des sonderbaren Modernitätsverständnisses einer fehlgeleiteten „akademischen Kulturelite“ seine musikalischen Wurzeln aufzugeben (Volksmusik-Bashing etc.).

Was den Satz von Mr. Obama im Zusammenhang mit Paisley (einem Neotraditionalisten unter den neueren Country-Musiker-Darstellern) betrifft, zeigt dieser, wie geschickt Politiker formulieren ohne dabei wirklich etwas entscheidendes zu sagen. Natürlich befassen sich lyrics – auch die jenseits von Country music – mit dem Leben und mit Geschichten. Mit was auch sonst?

Ich schätze, Country music ist Anfang der achtziger Jahre gestorben. Was folgte, ist eher PCM (Pseudo-Country music) oder Country-Pop im großen Eintopf von ACM (Adult contemporary music). Musik für Nostalgiker, Rassisten, Sympathisanten und andere Überholte. Möglicherweise lassen sich hier auch Parallelen zur Transformation von Volksmusik zu volkstümlicher Musik ziehen.

Wie groß die Scheuklappen bei vielen (amerikanischen) Country-Fans tatsächlich sind, wie ungesund deren Konservatismus und schiefer Patriotismus (“the Gleichschaltung”) ist, zeigt der Umgang mit den Dixie Chicks erschreckend deutlich. Auf einem ihrer Konzerte in Europa nahmen die Chicks – wie viele andere in und außerhalb Europas auch – Stellung gegen George W. Bush (XLIII.) und seinen Irak-Krieg (jenem Krieg der auf einer vorsätzlichen Lüge der Amerikanischen Regierung beruhte).

Im Fall der Dixie Chicks geriet das gezielte Vorgehen (während des Vorwahlkampfes) von republikanischen Politikern, erzkonservativer Presse, Radio- und TV-Sendern und von ihnen aufgehetzter Country music Fans zur Hexenjagd, das bis hin zu Morddrohungen, Boykott und der Bücherverbrennungen nicht unähnlichen öffentlichen Zerstörung von CDs der Chicks reichte. Von free speech war da nicht mehr viel übrig. Für mich nicht überraschend, dass dies gerade in der Country-Szene möglich war [dass ich Zusammenhänge zwischen bestimmter konservativer Musik und konservativem Publikum sehe, habe ich im Thread bereits geschrieben]. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Anti-Bush-Haltung von Madonna in einem Video zum gleichen Zeitpunkt. Die Pop-Szene reagierte allerdings vollkommen anders.

Ich vermisse nicht die systemkritischen Akzente der PCM (auch wenn mir solche selten begegnen), sondern die Toleranzfähigkeit eines Teils der Fans. Eine gesamtgesellschaftliche Relevanz kann ich auch nicht erkennen. Eine im Grunde rassische Musik (Niggaz und alle anderen Volksgruppen mit Migrationshintergrund werden ja ausgeschlossen) kann dies auch schlecht für sich in Anspruch nehmen. Es stellt sich zudem die Frage, welche Funktion diese um sich selbst kreisende Szene eigentlich im neuen, im globalen Jahrtausend noch haben kann.
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