Re: Udo Lindenberg

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annamax

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Die Südwestpresse gratuliert Udo Lindenberg zum 70ten mit einem dicken Interview:

„Auf dem Olymp, wo ich hingehöre“

Panik-Experte und Rock-Olympionik: Udo Lindenberg hat sein Album „Stärker als die Zeit“ veröffentlicht und feiert am Dienstag seinen 70. Geburtstag.

Haben Sie vor dem neuen Album „Stärker als die Zeit“ eine neue Textlust verspürt?

UDO LINDENBERG: Ich konnte lange nicht texten, weil ich so sehr mit den Stadionshows beschäftigt war. Da sind ja 200 Experten am Start. Als die Show stand, war klar: Ich wollte nicht alte Songs recyclen, sondern neue schreiben. Jetzt sind das 15 Stücke. Ich habe mich richtig reingehängt, bin zwischen den Studios in Los Angeles, New York und Deutschland hin und her gereist. Ich bin ja ein Streuner zwischen Hotelbars, Bahnhöfen und Flughäfen, unterhalte mich mit den Leuten, höre genau zu. Die Songs entstehen praktisch auf der Straße, nicht im Dichterelfenbeinturm. Und in der Stille der Nacht geht’s dann an den Feinschliff.

Mit der ersten Single „Schwere Zeiten“ bieten Sie Balsam für die Seele.

LINDENBERG: So soll es sein. Das ist mein Lied über wahre Freundschaft. Wenn der eine hängt, ist der Freund am Start. Auch nachts um vier Uhr. Das ist die Power von Freundschaft.

Was war im Studio nach dem starken Comeback-Album „Stark wie Zwei“ nun anders?

LINDENBERG: Ich bin jetzt auf dem Olymp, wo ich auch hingehöre. Auf „Stark wie Zwei“ musste ich erst noch aus dem Matsch heraus und nach oben krabbeln. Der Niedergang, verloren im Alkohol, Drogenstorys, der Tod meines Bruders – ich musste meine Flügel erst einmal ausschütteln und reinigen. Aber in mir ist ja eine Automatik für Optimismus eingebaut. Ich bin ein Autoptimist.

Schon immer?

LINDENBERG: Ich wusste immer, ich kriege das hin. Schon als ich mit 15 Jahren von Zuhause abgehauen bin. Ich habe ja nie etwas Richtiges gelernt. Es gab nie eine Alternative zum „Wir kriegen das hin“. Und jetzt haben wir es wieder hingekriegt: ein starkes Album, eine gigantische dreistündige Show, getragen von der Panik-Familie und all den liebenden Sympathisanten, die in die Stadien kommen.

Waren am Album die bewährten Musiker beteiligt?

LINDENBERG: Unter anderem. Da waren auch Musiker der Band von Pink, die ich ganz gut kenne, die Jungs von „Stark wie Zwei“, die Panik-Band und sehr viele Gäste wie etwa Deichkind. Bei uns ist das im Studio ja wie in einer WG. Mal ist Partytime, dann wieder Kundendienst oder intellektueller Austausch mit musikalischen Grüßen an internationale Kollegen wie AC/DC oder Tom Petty. Aber natürlich immer mit dem bewährten Panik-Sound. Und das Whisky-gestählte Organ aus dem Gully hält alles zusammen. Ich habe in diese Stimme sehr viel investiert, bis ich sie da hatte, wo ich sie haben wollte.

Sie gelten als der „Erfinder der Coolness“ und singen doch vom mulmigen Gefühl vor Auftritten. Haben Siedenn tatsächlich noch Lampenfieber?

LINDENBERG: Wenn da 50.000 Leute sind, schon ein bisschen. Ich schaue mir die Panik-Experten da unten dann aber genau an und denke einfach, ich singe für jeden einzelnen und nicht für eine anonyme Masse. In „Der einsamste Moment“ beschreibe ich aber auch einen magischen Feuchte-Augen-Moment im Berliner Olympiastadion, als ich in meiner Kapsel hypochondrisch über dem Publikum schwebte, zum Himmel schaute, an meine Eltern dachte und aus einem regenverdächtigen Himmel plötzlich die Sonne herausstrahlte. Wenn ich aber auf der Bühne stehe, mit dem Mördersound der Band im Rücken, ist wieder alles klar.

War es wie im Video zu „Schwere Zeiten“ an der Zeit, die Brille abzunehmen?

LINDENBERG: Ja, ich mache das immer häufiger, damit sich die Seelen noch besser erkennen.

Sie singen über die blauen Augen, die Sie sich in den vergangenen 70 Jahren eingefangen haben. Was hätten Sie sich rückblickend vielleicht schenken können?

LINDENBERG: Meine Alkohol- und Drogen-Odyssee durch die Katakomben der Erkenntnis und das Ausloten der Grenzbereiche im Zeichen der Kunst und Krisen waren schon ganz schön heavy. Aber ich habe mein Leben in den Dienst des Rock ‘n‘ Roll gestellt, und die Kunst ist eine fordernde Geliebte. Sie lässt bürgerliche Liebes- und Lebensmodelle nicht zu. Ich muss halt die frei schwebende Nachtigall sein, die Wildente, die immerdar herumflattert mit der Antenne obendran für die göttlichen Eingebungen und Genieblitze. Ich war immer ein Reisender und Suchender, und das geht immer so weiter. Oder wie mein Freund Benjamin von Stuckrad-Barre zu sagen pflegt: Man sollte die Angebote der Normalität weitgehend ablehnen.

Sie singen, Sie seien Original und Parodie zugleich.

LINDENBERG: Vor 15 Jahren haben mich ja viele nur noch als eine alkoholisierte Karikatur mit Schlapphut gesehen. Aber dann bin ich wieder zu einer Panikstatue geworden, stolz und erhaben, legendenmäßig. Man könnte auch Udol sagen, aber man soll den Personenkult ja nicht übertreiben. Wenn ich aber dafür stehe, die eigene Individualität zu feiern und zu inszenieren, einfach der Chef zu sein im eigenen Leben, möglichst wenig fremdbestimmt egal in welchem Bereich, dann ist das doch eine geile Sache. Für mich ist es sowieso prima, wenn sich das Leben nach mir richtet und ich mich nicht nach dem Leben ausrichten muss.

Gibt es zwischen Ihnen und Karl Lagerfeld Verbindungen?

LINDENBERG: Er ist ja auch ein sich extrem selbstverwirklichender Pioniervogel und steht mit seinen 82 Jahren noch richtig heavy im Leben. Das verbindet uns, neben dem Aussehen natürlich. Ich halte mich aber richtig fit. Ich brauche ja ordentlich Kondition für die großen Bühnen, deshalb jogge ich sehr viel, vornehmlich in der Geisterstunde, egal wo ich bin. Ich höre dabei häufig Klassik, Nirvana oder David Bowie.

David Bowie ist ja leider im Alter von 69 Jahren von uns gegangen. Sie werden am 17. Mai 70 Jahre alt. Wundern Sie sich manchmal über die geradezu trotzige Wehrhaftigkeit Ihres Körpers?

LINDENBERG: Ich wundere mich, dass ich überhaupt noch lebe bei all den Exzessen. Ich finde das mehr als erfreulich, deshalb habe ich nun auch ein Dankeschön-Lied für meinen Body geschrieben. Mehr als traurig ist natürlich die Abreise von David Bowie, mit dem ich auch befreundet war. Die machen oben eine ordentliche Band auf. Da glaube ich dran. Auch, weil ich daran glauben möchte.

Unterscheiden sich die Stadionkonzerte 2016 wie etwa in Stuttgart von den Shows der Vorjahre, weil es jetzt ein neues Album gibt?

LINDENBERG: Wir haben sieben neue Songs im Programm, einige der alten neu arrangiert, und etliche Bilder und Bauten sind neu. Das wird die größte Rockrevue der Welt. Unsere LED-Wand ist noch einen ganzen Zacken breiter als bei den Rolling Stones, wir haben mehr Boxen hängen als AC/DC. Wir sind ja von der Firma K. u. K.-Monarchie, also Keine Kompromisse, und der Veranstalter heißt Big Big. Wenn wir Stadion machen, dann nur vom Allergrößten, egal was es kostet. Wir sind jetzt im letzten Jahr unserer Stadion-Trilogie. Nun kommt der krönende Abschluss. Was danach passiert, weiß ich noch nicht. Ein echter Abenteurer lässt sich ja alles offen.

Sie haben sich ja auch bereits lümmelhaft singend in die große Politik eingemischt. Was denken Sie über den „Fall Böhmermann“?

LINDENBERG: Das höchste heilige Gut ist die Meinungsfreiheit der Kunst und der freien Presse. Und in justiziable Themen sollte sich die Regierung dieser bunten und wunderbaren Republik nicht einmischen, auch wenn der Deal, den Angie mit Erdogan eingehen musste, natürlich eine sehr wackelige Sache ist. Erdogan ist ja ein Despot erster Güte, der die Türkei ins finsterste Mittelalter zurückschieben und die Trennung zwischen Staat und Religion wieder aufheben will. Wenn der Islam das noch durchmachen muss, was Europa in den vergangenen 1000 Jahren erlebt hat, dann brauchen wir wirklich gute Nerven.

Gute Nerven braucht man aber auch wegen der Rechtstendenzen in der bunten Republik.

LINDENBERG: Die braune Färbung und Limitierung im Denken, das Anstecken von Flüchtlingsheimen und die Rufe, dass man diese Menschen wieder zurück nach Hause in die Arme des IS schicken will, geht natürlich gar nicht und muss bald vorbei sein. Wir brauchen für diese größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg eine gesamteuropäische Lösung, und wenn einige nicht mitmachen wollen, muss die EU eben Druck machen. Diese große Vision Europa, auch vermittelnd zwischen den USA und Russland, darf man nicht aufgeben.

http://www.swp.de/ulm/nachrichten/kultur/Udo-Lindenberg-wird-70-und-feiert-mit-einem-neuen-Album;art1222892,3831050

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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.