Re: Graphic Novels

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friedrich

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So, hier ist sie, die Graphic Novel einer – knapp – 27-jährigen ehemaligen Studentin der visuellen Kommunikation. Anders als angenommen, ist die Geschichte aber keineswegs autobiographisch. Und ob es sich dabei um einen Befindlichkeitscomic handelt, bezweifle ich auch.

Olivia Vieweg – Antoinette Kehrt Zurück (2014)

Olivia Vieweg war mir bisher unbekannt, obwohl sie bereits mehrere Comics veröffentlicht hat, darunter die Zombie-Geschichte Endzeit und die Literatur-Adaptation Huck Finn. Außerdem hat sie 2010 den ICOM Independent Comic Preis gewonnen. Mit Antoinette Kehrt Zurück gewann Vieweg 2012 einen Wettbewerb für ein Stipendium des Egmont Verlags. Vieweg kommt ursprünglich vom Manga her und ein wenig kann man das ihren Zeichnungen auch ansehen: Ihre Figuren wirken mit den großen Augen etwas niedlich, Viewegs Zeichenstil ist in Antoinette Kehrt Zurück aber sonst ganz anders als ein Manga. Fast nur mit Bleistift gezeichnet und mit einem blassen Orange als einzige Farbe wirken die Zeichnungen skizzenartig und etwas kindlich.

Antoinette ist eine erfolgreiche junge Frau, die in Los Angeles lebt, jedoch von Bildern aus ihrer Vergangenheit in einem deutschen Provinzstädtchen verfolgt wird. Um sich davon zu befreien kehrt sie noch einmal dahin zurück. Nach und nach kehren ihre Erinnerungen wieder und man erfährt, dass sie in der Kindheit von ihren Mitschülern gemobbt und gedemütigt wurde. Allmählich wird klar, dass sie in ihrer alten Heimat noch eine Rechnung offen hat, die sie begleichen will. Antoinette wirkt zunächst sympathisch und unwillkürlich fängt man an, sich mit ihr zu identifizieren. Doch dann erfährt man, was geschah, nachdem Antoinette ihre Heimat Richtung Amerika verlassen hatte und warum sie noch einmal zurückkehrt.

Graphic Novel ist ein großes Wort für dieses kleine Buch mit gerade mal 84 Seiten (+ ein paar Seiten Anhang). Vermutlich will der Verlag damit zeigen, dass dies zwar eine Geschichte über Kindheit ist, jedoch keineswegs eine Geschichte für Kinder. Eigentlich ist Antoinette Kehrt Zurück eher eine Kurzgeschichte mit einem sogar recht einfachem Plot, aber spannend erzählt, da die Hintergründe der Geschichte erst nach und nach durch Rückblenden aufgedeckt werden.

Olivia Vieweg schafft in Antoinette Kehrt Zurück einen irritierenden Kontrast zwischen ihren auf den ersten Blick niedlich wirkenden Zeichnungen und dem bitterbösen Abgrund, in den die Geschichte führt. Das wirkt unheimlich, manchmal rätselhaft und ein-zwei mal musste ich auch zurückblättern um Zusammenhänge zu verstehen. Einiges setzte sich für mich auch erst beim zweiten Lesen zusammen. Die Geschichte wird nicht immer völlig auserwählt, manche Charaktere bleiben etwas blass und einiges funktioniert auch mehr über spukartige Bilderfolgen, die im Kopf von Antoinette abzulaufen scheinen, als das es explizit dargestellt wird. Eine kleine Schwäche und bei der Kürze der Geschichte vielleicht nicht zu vermeiden. Vielleicht aber auch Mut zur Lücke.

Eine grausame und teuflische Geschichte, stellenweise aber auch mit makabren Humor, wenn Antoinette auf dem Weg zum Showdown Cowboyhut und -stiefel trägt – in der Hand eine Frühstücksdose, auf der ein niedliches Vögelchen abgebildet ist. Ein Geschichte wie ein böser Traum.

Seite des Verlages zum Buch

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)