Re: Graphic Novels

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friedrich

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Volker Reiche – Kiesgrubennacht (2014)

Autobiografische Comics haben inzwischen schon eine lange Tradition. Keiji Nakazawas „Barfuß durch Hiroshima“ und Robert Crumbs selbstironische Betrachtungen haben Pionierarbeit geleistet und Art Spiegelmans Aufarbeitung seiner Familiengeschichte in „Maus“ oder Marjane Satrapis „Persepolis“ gelten zu Recht als Klassiker. Zugegeben: Damit liegt die Latte ziemlich hoch. Man kann diese oder andere Geschichten aber auch als Vorbilder und Anregungen betrachten. Offenbar wird das auch von vielen Autoren so gesehen.

Volker Reiche ist vielen wohl als langjähriger Zeichner des täglichen Strips Strizz in der FAZ bekannt. Da ich die FAZ nicht lese, blieb mir dies jedoch bislang verborgen. Vielleicht ist das aber auch von Vorteil, den so kann ich mich unvorbelastet seinem Buch Kiesgrubennacht nähern.

Volker Reiche versucht sich in Kiesgrubennacht an einer „großen Comic-Autobiographie“ (Klappentext), die nicht nur von der Nazi-Vergangenheit seiner Eltern, deren unglücklicher Ehe, seiner Kindheit als Flüchtlingskind in der Nachkriegszeit sondern auch seinem Entschluss, Künstler zu werden, erzählt. Reiche wählt dafür das Mittel einer Anekdotensammlung aus seiner Kindheit, die sich mit Episoden abwechseln, in denen er aus heutiger Perspektive über die Vergangenheit reflektiert. Die neunmalkluge Katze Herr Paul und die Hunde Tassilo und Müller – Figuren aus Strizz – kommentieren darin die Handlung wie ein Chor. Leider gelingt es Reiche nicht, die Geschichte für sich stehen zu lassen und es damit dem Leser zu überlassen, seine eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. Die Anekdoten sind zwar für sich recht schön erzählt, setzen sich aber kaum zu einem größeren Bild zusammen. Zusammenhänge werden erst durch Rückblicke und Erläuterungen des Autors hergestellt. Reiche liefert die Interpretation also selber gleich mit. Das könnte geistreich und witzig sein, ist über weite Stecken aber nur redundant und ermüdend. Seitenweise geben seine Figuren erläuternden Text von sich, ohne dass die Zeichnungen irgendetwas zur Geschichte beitragen. Es gibt Sprechblasen, die enthalten mehr als 20 Zeilen Text! Einiges wird sogar überhaupt nicht oder nur Andeutungsweise über Bilder erzählt, darunter ausgerechnet die titelgebende – mögliche – Verstrickung von Reiches Vaters in eine Massenhinrichtung an einer Kiesgrube und die Vergangenheit seiner Mutter als BDM-Gauleiterin. Gut, der Autor hat das nicht selbst miterlebt und kennt es selbst bloß aus Erzählungen. Gerade darum geht es ja. Aber was muss das in der Phantasie eines Kindes ausgelöst haben? Reiche erwähnt diese für seine Geschichte zentralen und offenbar so prägenden Ereignisse jedoch nur in ein paar Worten. Auch die letzten zwanzig Jahre des Lebens seiner Eltern – seine Mutter starb als Alkoholikerin – erzählt Reiche nur noch im Epilog in der Rückschau.

Ich weiß, Volker Reiche ist ein hochdekorierter Zeichner und Autor. Er mag ja auch ein guter Zeichner von kurzen Strips sein. Mit der großen Form ist er aber überfordert. Es gelingt ihm in „seinem autobiographischen Großwerk“ (nochmals Klappentext) nicht, seine Geschichte fesselnd und berührend zu erzählen. Auch seine stilistisch wenig prägnanten Zeichnungen reißen da nichts raus. Es tut mir fast leid, das so zu schreiben, aber insbesondere nach den vielen überschwänglichen Kritiken von Kiesgrubennacht, die ich gelesen habe, bin ich enttäuscht – nach dem großspurigem Klappentext (noch eine Kostprobe: VR legt „auf noch nie im Comic gesehene Weise Rechenschaft ab“) sogar verärgert.

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)