Re: Graphic Novels

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Fangen wir mal mit einem Comic an, der kürzlich erschienen ist und der – sicher nicht ganz zufällig – ein Thema behandelt, das gegenwärtig anscheinend sehr en vogue ist und übrigens auch in der aktuellen Ausgabe sehr empfehlenswerten Magazins von get happy!? aufgegriffen wird.

Jörg Ulbert (Text) + Jörg Mailliet (Zeichnungen) – Gleisdreieck Berlin 1981 (2014)

Ich hatte das Glück vor einigen Wochen einer Buchvorstellung von Gleisdreieck Berlin 1981 beizuwohnen. Der Ort dafür war fast ideal: Unterm Dach des Kreuzberg Museums standen Texter, Zeichner und Verleger Rede und Antwort. Da sie völlig unvorbereitet in die unmoderierte Veranstaltung gingen, lief diese zwar etwas zerfahren ab. Immerhin fanden sich im Publikum aber einige – inzwischen grauhaarige – alte Kämpfer aus der Zeit, in der Gleisdreieck spielt, die einiges zum Thema beizutragen hatten: Die Zeit des Häuserkampfes im West-Berlin der frühen 80er Jahre.

Die Autoren von Gleisdreieck leben heute in Frankreich, haben aber die 80er Jahre in Berlin erlebt. Vor dem Hintergrund des Häuserkampfes erzählen sie eine Geschichte um zwei Figuren aus entgegengesetzten Lagern: Martin, ein ehemaliger Angehöriger der Bewegung 2. Juni, der in Berlin noch eine Rechnung offen hat, und Otto, verdeckter Ermittler der Polizei, der ebendiesen ausfindig machen soll, treffen in West-Berlin ein. Der eine nimmt alte Kontakte wieder auf, der andere mischt sich in die Szene von Hausbesetzern und militanten Gruppen, um an Informationen über den gesuchten Terroristen zu gelangen. Den Titel Gleisdreieck, Name einer Kreuzberger U-Bahn-Station, an der sich zwei Linien kreuzen, darf man wohl als Metapher verstehen – auch wenn sich Martin und Otto nie direkt begegnen.

Ulbert und Mailliet vermischen in ihrer Geschichte fact und fiction: Der reale gewaltsame Tod des 18-jährigen Demonstranten Klaus-Jürgen Rattay kommt ebenso vor wie ein fiktiver Entführungsversuch des realen damaligen Innensenators Lummer und ein Banküberfall, bei dem die Räuber Negerküsse an Bankpersonal und Kunden verteilen – letzteres ist tatsächlich vorgefallen, wenn auch schon 1975.

Während sich Martin und Otto durch West-Berlin bewegen treffen sie auf Hausbesetzer, Punks, endlos diskutierende Sponti-Gruppen und sogar ein paar baskische ETA-Aktivisten, die ihren Kampf für Autonomie und gegen Faschismus mit einem Bordell finanzieren. Die Handlung ist etwas verworren, manchmal schwer nachvollziehbar und löst sich am Ende etwas abrupt und unspektakulär auf. Eine Schwäche, die ich aber gerne in Kauf nehme, denn offenbar nehmen Ulbert und Mailliet die Geschichte vor allem zum Anlass um die Atmosphäre im West-Berlin der frühen 80er einzufangen. Und das gelingt ihnen vorzüglich.

Straßenkämpfe, Prügeleien am Rand von Punkkonzerten, Rumgehänge in Szene-Kneipen, versiffte WGs in tristen Mietskasernen, Paranoia und politische Polarisierung vor dem Hintergrund von Hausbesetzungen und Terrorismus werden so realistisch wirkend dargestellt, dass man meint darin einzutauchen. Jörg Mailliet schafft lässig wirkende aber sehr detaillierte Zeichnungen, die auch von der Farbgebung eine Atmosphäre erzeugen, die man fast spüren kann. Die eigentliche Hauptrolle in Gleisdreieck spielt dabei die Stadt Berlin selbst. Auf fast jeder Doppelseite ist ein Ort oder ein Gebäude zu sehen, das jeder Berliner kennt, sei es der Flughafen Tegel, das SO 36 oder der BEHALA-Speicher am Westhafen, auf den die Gruppe, in die sich Otto eingeschleust hat, einen Brandanschlag verübt. Als Dreingabe liefern die Autoren sogar eine Playlist von den Einstürzenden Neubauten über die Fehlfarben bis zu Joy Division mit.

In Gleisdreieck wird ein Bild stark stilisiertes und mythisch verklärtes Bild vom Berlin der 80er Jahre gezeichnet, das von fast schon pittoresker Tristesse einerseits und brodelnder Aufruhr andererseits geprägt ist. Berlin war damals zwar nicht nur von Verfall, Hausbesetzungen und Terrorismus gezeichnet und anders als in Gleisdreieck dargestellt schien dort auch hin und wieder mal die Sonne. Aber genau mit dieser Zuspitzung schaffen Ulbert und Mailliet ein beeindruckendes Stück Faction, das diese untergegangene Ära Berlins fast wieder etwas lebendig werden lässt. Ein Stück Zeitgeschichte als Comic.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)