Re: Lieder ohne Worte – Delias Kreis der Davidsbündler

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claraschumann

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21. Modest Mussorgsky – Bilder einer Ausstellung – Erinnerungen an Viktor Hartmann

So fing es an. So endete es 1881 vom Alkohol gezeichnet.

Als Initator des Mächtigen Häufleins dem der bereits vorgestellte Rimskij-Korsakow mit 18 Jahren als Jüngster beigetreten war gilt Mili Balkirew, der sich als Mathematikstudent am Klavier im Musikerkreis St. Petersburgs einen Namen gemacht hatte und dadurch ab 1862 der Reihe nach auf die späteren Mitglieder seines musikalischen Novatorenkreises traf.
Der je nachdem am 9. oder am 21. März 1839 (julianischer vs. gregorianischer Kalender) geborene Modest Mussorgsky war in die Gruppe über einen Freund, Wladimir Stassow, gekommen und diesem Stassow verdankte Mussorgsky auch noch eine zweite wichtige Bekanntschaft, nämlich die zu dem Archtitekten Viktor Hartmann, der ebenso über Stassow in den Bekanntenkreis Balkirews gekommen war und im Besonderen eine Freundschaft zu Mussorgsky entwickelt hatte. Hartmann hatte unter anderem das 1862 in Nowgorod eingeweihte Denkmal zur Tausendjahrfeier Rußlands geschaffen.
Bedeutend für Mussorgsky war in der Freundschaft zu Hartmann eine im Jahre 1864 begonnene, vierjährige Auslandsreise des Architekten, welche dieser mit hunderten Skizzen, Zeichnungen und Aquarellen dokumentiert hatte.
1873 erlitt Hartmann mit nur 39 Jahren einen Schwächeanfall, dem er wenig später erlag. Mussorgsky verfasste daraufhin für den Freund einen Nachruf einen kurzen Nachruf für die „Petersburger Nachrichten“.
Wladimir Stassow organisierte im folgenden Jahr zum Gedenken Hartmanns eine Ausstellung mit dessen Werken, darunter auch die Bilder der bereits erwähnten Reise.

Genau diese Ausstellung regte nun den Komponisten Mussorgsky an dem Verstorbenen auch noch ein musikalisches Denkmal zu setzen.
Der ursprünglich für Klavier geschaffene Zyklus umfasst zehn Titel, die jeweils ein Gemälde oder Bild Viktor Hartmanns beschreiben und gilt als Musterbeispiel der Gattung der Programm-Musik (vergl. Absolute Musik bei Brahms).

Die deutschen Übersetzungen lesen sich wie folgend:

—  Der Gnom
—  Das alte Schloss
—  Die Tuilerien (Spielende Kinder im Streit)
—  Der Ochsenkarren
—  Ballett der unausgeschlüpften Küken
—  „Samuel“ Goldenberg und „Schmuyle“
—  Limoges. Der Marktplatz (Die große Neuigkeit)
—  Die Katakomben (Römische Gruft)
—  Die Hütte auf Hühnerfüßen (Baba-Jaga)
—  Das Heldentor (in der alten Hauptstadt Kiew)

Dazwischen kehrt immer wieder ein weiteres Motiv, das der Promenade, in verschiedenen Variationen auf, welches den Eindruck eines Rundgangs vermittelt und die Stücke ineinander überleitet bzw. aneinander bindet. Mussorgski selbst sprach davon, dass die Promenade ihn darstelle, wie er zwischen den Ausstellungsstücken umherwandere, um sie zu betrachten.

„Gnomus“ stellt das Portrait eines kleinen Zwerges auf missgestalteten Beinen dar. Im „Alten Schloß“ stimmt ein mittelalterlicher Troubadour seine Romanze an, bis in den „Tuilerien“ streitende Kinder im Garten der Tuilierien zusammen mit ihren Gouvernanten nachgezeichnet werden.
Das nächste Bild befasst sich mit einem „Bydlo“, einen polnischen Ochsenkarren, der am Betrachter vorbei poltert und langsam wieder verschwindet.
Für „Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen“ ließ Mussorgsky sich von einem Kostümentwurf Hartmanns für das Ballett „Trilby“ des Petersburger Dirigenten, Geiger und Komponisten Julius Gerber leiten.
„Samuel Goldenberg und Schmuyle – Zwei polnische Juden, der eine reich, der andere arm“ ist der Titel der Schilderung zweier Charaktere, die zuerst isoliert und am Ende aufeinandereinredend dargestellt werden.
Auf dem „Marktplatz von Limoges“ schreien und zanken sich Marktweiber, es wird laut und hektisch, dann geht es unter dem Licht einer Laterne hinab in die Katakomben von Paris.
Mussorgsky notierte dazu in der Partitur die Worte „con mortuis in lingua mortua“ (mit den Toten in der Sprache der Toten) und dann auf russisch „Der schöpferische Geist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den Schädeln und ruft sie an – die Schädel beginnen im Inneren sanft zu leuchten“. Durch eine Variation des Promenadenmotivs stellt sich Mussorgsky als Betrachter selbst mit Hartmann dar, bevor er im nächsten Bild die russische Hexe Baba Jaga einen wilden Hexenritt vollführen läßt. Den Abschluß des Werkes bildet Hartmanns Zeichnung des „Großen Tores von Kiew“, eines Architekturentwurf eines Tores im altrussischen Stil mit einer Kuppel in Form eines slawischen Helms. Die Basis dieses Schlußgemäldes ist wieder die „Promenade“, die nun aber mit zusätzlichem motivischen Material angereichert wird und im letzten Bild der Suite die Größe eines Opernfinales verleiht.

Wie ich anfangs erwähnte waren die Bilder anfänglich für Klavier konzipiert, ähnlich wie Maurice Ravels Rhapsodie Espagnole, mit der Zeit kam es jedoch zu zahlreichen Neuinterpretationen für Orchester und die orchestrierte Version des gerade genannten Ravel ist dabei sicherlich die bekannteste und liegt auch mir hier vor.

Ravel war es wohl auch zu verdanken, dass das Werk letztendlich doch noch zu Berühmtheit gelangte, denn zu Mussorgskys Lebzeiten wurden die „Bilder einer Ausstellung“ vollständig ignoriert, selbst sein Kollege Rimskij-Korsakow berichtet in seiner Chronik nicht darüber, obwohl vermutet wird er selbst hatte auch einer Orchesterversion des Werkes gearbeitet.
Jedenfalls wurde die Suite überhaupt erst einige Jahre nach Mussorgskys Tod (1886) gedruckt, dann ziemlich vergessen und erst wieder in den 20er Jahren des neuen Jahrhunderts wiederentdeckt.

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