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Fef, ich kann Deine Wahrnehmung sehr wohl nachvollziehen – aber ich halte sie für eine stark retrospektive, die man so damals wohl noch gar nicht empfinden konnte. Das wegen der sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte von Miles und Trane auf der einen, Ornette auf an der anderen Seite.
Ornette war der neue Schreck, der Dilettant, derjenige, der ein Kinderplasticsaxophon spielt und nicht mal korrekt eine Tonleiter blasen konnte… während Miles und Coltrane eine lange Geschichte als zentrale Exponenten des Jazz hatten und als gestandene und bedeutende Musiker wahrgenommen wurden. In diesem Sinne konnte ein zeitgenössischer Hörer mit einigermassen offenen Ohren und wachem Verstand selbst wenn er Miles‘ und Coltranes Neuerungen ablehnend gegenübsterstand (sogar Humphrey Lyttleton hat Albert Ayler verstanden, verdammt!) als Weiterentwicklung der Musik verstehen, die sie davor gemacht haben… es gibt eine Entwicklungslinie, und dadurch eben auch keine „totale“ Freiheit (was immer das auch heissen mag).
Die Entwicklungslinie, die es bei Ornette natürlich auch gab, war damals bei ihm offenbar für viele nicht wahrnehmbar – sonst hätte man ihn nicht als den Ikonoklasten und wütenden Bilderstürmer wahrgenommen, als der man ihn damals sah. Dass seine Musik stark liedhaft ist, seine Soli oft einfach und meist tonal, seine Gruppe swingte und vor allem ganz tief im Blues verwurzelt ist – im ländlichen wohl eher als im urbanen, auch mit Charlie Haden und seinen Wurzeln in den Spirituals und Country-Songs – das konnte man offenbar damals nicht in der Klarheit sehen, in der wir das heute im Rückblick erkennen.
In diesem Sinne halte ich es auch für fragwürdig, ihn als so brav und zahm darzustellen, wie Du das in Deinem Post oben machst. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, natürlich soll und kann man Musik neu bewerten, anders betrachten, aber man sollte eben auch die wirkungsgeschichtliche Seite nicht völlig ausser acht lassen.
Überdies muss einfach festgehalten werden – und da stimmst Du mir sicher auch zu – dass Ornettes stimmhaftes, rauhes Spiel auch heute noch weit von jeglicher Orthodoxie ist, dass er sein Instrument auch heute nicht so bedient, wie das an Schulen und anderswo gelernt wird. Das tut er nun aber nicht, um zu schockieren, sondern weil er darin sein ihm eigene Ausdrucksform gefunden hat, die noch heute so direkt und berührend ist wie nur wenig anders. Seine frühen Atlantic-Aufnahmen sind noch immer wunderbar frisch und überraschend – aber wie Du sagst: überraschend ist für den heutigen Hörer eben auch, wie massiv die Reaktionen darauf ausfielen. Doch dafür hab ich ja eben eine mögliche Erklärung geliefert.
Was die Schubladen, Stil-Etiketten usw. betrifft: manchmal sind sie hilfreiche Werkzeuge, manchmal nicht, im Fall von Free Jazz trifft wohl recht klar letzteres zu… man kann mal in Berendts Jazzbuch die paar Punkte nachlesen, die er zu den Neuerungen im Jazz der 60er schreibt, ist gar nicht schlecht, aber der springende Punkt dabei ist, dass die Neuerungen unterschiedlich gewichtet werden, dass gewisse Elemente bei machen Musikern überhaupt nicht zum Tragen kommen. Es gibt eben – und das liegt in der Natur des Free Jazz – keine bestimmte Weise, in der „Free Jazz“ gespielt werden soll.
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