Re: Gibt es objektive Kriterien für die Beurteilung von Rock/Popmusik

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go1
Gang of One

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Die Diskussion ist jetzt in eine andere Richtung gegangen, aber ich will diesen Thread trotzdem dazu nutzen, ein paar Gedanken aufzuschreiben, die mir schon seit längerem im Kopf herumgehen.

Bei der Beurteilung von Musik spielt natürlich Erfahrung eine Rolle: Wer viel Blues gehört hat, kann leichter zwischen inspirierten und bloß routinierten Bluesaufnahmen unterscheiden; nur wer vieles kennt, kann erkennen, ob jemand originell oder epigonal ist; usw. Aber das ist nicht die ganze Geschichte: Auch Leute, die ähnlich erfahren sind, kommen manchmal zu entgegengesetzten Urteilen, und das liegt daran, dass sie unterschiedliche Kriterien haben, verschiedenen ästhetischen Werten anhängen.

Wer z.B. Virtuosität hochschätzt, die scheinbar leichte Meisterung spieltechnischer Schwierigkeiten, „musicianship“ und Professionalität, der wird in Bezug auf zeitgenössischen Bluegrass zu ganz anderen Urteilen kommen als etwa Wolfgang Doebeling, für den Bluegrass weitgehend tot ist, wie er hier mal geschrieben hat, wenn ich mich richtig erinnere – an virtuosen Musikern herrscht da nämlich kein Mangel. Was den einen begeistert, lässt den anderen kalt. Wer hat nun Recht und wer Unrecht? Das ist die falsche Frage. Die richtige lautet: Wem geben wir Recht, wessen Position machen wir uns zu eigen, für welche ästhetischen Werte entscheiden wir uns? Es gibt hier keine absolute Wahrheit, sondern nur Entscheidungen. Auf dem Feld der Ästhetik herrscht nicht Objektivität, sondern kämpferische Subjektivität. Kriterien zur Beurteilung von Musik werden stets umstritten sein.

Für mich ist klar, dass ich alle Positionen ablehne, die Virtuosität, „Handwerk“, technische Perfektion in den Vordergrund rücken. Ein bedeutender Teil meiner Lieblingsmusik würde nach solchen Kriterien schlecht abschneiden und das kann ich nicht zulassen. Wenn jemand unterstellt, technisch anspruchsvolle Musik sei besser als solche, die leicht zu spielen ist, oder perfekt gespielte Musik sei besser als solche, die Fehler enthält, dann bin ich dagegen. Das ist eine Entscheidung, die ich getroffen habe; ich erwarte nicht, dass sich alle mir anschließen und meine Argumente teilen. Ich sage vielleicht: Restriktion ist die Mutter der Innovation; technische Mängel zwingen zur Kreativität und fördern Originalität; Virtuosen geraten in Versuchung, ihre eingeübten Licks herunterzuspielen, ein paar Ideen, die sie einmal als gut erkannt haben, immer wieder zu reproduzieren. Aber es ist klar, dass ich keinen „Mucker“ damit überzeugen werde. Ich spiele ihm ein wunderbares Stück vor und er sagt: „Das ist ja total billig, das könnte ich sofort nachspielen“. Und er könnte das auch, nur wäre ihm die Musik nie eingefallen. Dann spielt er mir vielleicht Jazzrock vor, ich höre selbstverliebtes, angeberisches Genudel, und er sagt: „Das ist total schwer zu spielen, aber es klingt so leicht. Toll!“ Sein geschultes Musikerohr erkennt in dem Genudel eine gekonnte Slalomfahrt durch spieltechnische Hindernisse. Ich kann das anerkennen, er hat da mehr Erfahrung als ich, aber deshalb ist diese Slalomfahrt noch lange keine gute Musik, nicht in meinem Universum.

Vielleicht einigen wir uns dann darauf, Coltrane zu hören. Coltrane war super, aber nicht deshalb, weil er ein Virtuose war, sondern weil er etwas zu sagen hatte, weil seine Virtuosität ihm immer Mittel zum Zweck war und er sie nicht als solche ausgestellt hat, weil er seine technischen Fertigkeiten in den Dienst einer künstlerischen Vision gestellt hat.

Aber Virtuosität als Mittel einer künstlerischen Vision ist nur eine Möglichkeit und nicht der Regelfall. Welche Mittel man benötigt, hängt vom Zweck ab, den man verfolgt. Es gibt viele künstlerische Ideen, die sich mit einfachen Mitteln perfekt verwirklichen lassen; und eine Idee wird nicht dadurch besser, dass sie anspruchsvoller Mittel zu ihrer Verwirklichung bedarf.

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To Hell with Poverty