Re: Europäischer Jazz

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Marco Zurzolo & Banda M.V.M. – Napoli Ventre del Sud (Egea, 2001)
Marco Zurzolo & Banda M.V.M. – Pulcinella (Egea, 2002)

Marco Zurzolo spielt Sopran- und Altsax, Flöte und Ciamarella, er hat überdies die meisten Stücke geschrieben oder aber basierend auf Kompositionen des Napoletanischen Autor & Stückeschreiber, Schauspieler und Musiker Rafaello Viviani, arrangiert.
Was dabei herauskommt passt perfekt zu meinem Steckenpferd (dada!) der „mediterranen“ Musik (das reicht von der italienischen Banda über die Folklore des französichen Südens, den Maghreb, nach Libanon etc… ist keine Theorie und nicht mal besonders viel Wissen über diese Musiken dahinter, bloss offene Ohren und eine grosse Faszination, sei es für Minafra, Trovesi oder Godard oder Rabih Abou-Khalil, Anouar Brahem oder Renaud Garcia-Fons etc etc). Neapel, das ja, wie wir jetzt wissen, zum Lande „Bordello“ gehört, passt da sehr gut rein, mit seiner ganzen Geschichte (einst war es ein Zentrum europäischer Macht, heute liegt es bestenfalls noch an der äusseren Peripherie…)
Also, zur Musik… was da herauskommt ist ein Feuerwerk an Ideen, gespiesen aus Folklore und Jazz – wobei man hier wohl genauso wie bei Texier, Trovesi, Coscia etc eher von „folklore imaginaire“ reden sollte, denn traditionalistisch ist hier nichts. Zurzolo ist in der Türkei, Tunesien und Ägypten gereist und hat Instrumente „gesammelt“, die Banda besteht also neben europäischen Instrumenten (Trompete, Tuba, Saxophone, Kontrabass) auch aus diversen anderen Instrumenten (Oud, Bouzouki, ), dazu kommen akustische Gitarren, die mehr nach Flamenco klingen als nach Jazz, die „fisarmonica“, das Didjeridoo, sowie diverse Perkussionsinstrumente (von Darbouka über Tabla bis zu Marimba).
Zurzolo ist dabei auf Alt- und Sopransax der zentrale Solist und spielt mit einem fetten grossen Sound, der eher an die alten Meister erinnert als an Parker und seine Schüler, der aus langsamen, statischen Phrasen in plötzliche melodische Eruptionen ausbrechen kann (nicht unähnlich Trovesi, aber Zurzolo klingt viel satter und irgendwie auch eine spur… zartbitter?)
Für mich ganz wunderbare Musik!
Auf der zweiten CD sind die arabischen Instrumente (mit Ausnahme der Trommeln) und das Didjeridoo und (leider) die Tuba verschwunden, die Musik klingt mehr nach Blasmusik (mit Big Band Swing „touches“ und ab und zu einem leichten Balkan-Touch). Ergänzt wurde die Gruppe dafür um Mandoline (die akustischen Gitarren sind nach wie vor auch da).

Die Booklets der CDs enthalten Zeichnungen von Karnevalsfiguren – die ganze Folklore spielt in diesem Sinn auch als Maskerade und Überlebenstechnik (als Kulturtechnik) rein. Aber der Spass ist viel zu präsent, als dass man hier zu viel über Konzepte nachdenken müsste (ausser man will, versteht sich).

Und noch ein Wort zum Label Egea. Die Produktionen sind vorbildlich, klingen warm und sehr präsent, mit einer grossen Tiefe, in der man sehr detailliert hören kann. Für mich ist das eine vorbildliche Art, Musik zu dokumentieren. Allerdings gebe ich gerne zu, dass vieles im Katalog von Egea durchaus in die von einigen hier eher beargwöhnte ECM-Richtung tendiert (z.B. kleine Formationen ohne Schlagzeug, überhaupt ein Hang zu lyrischer Musik). Allerdings ist insgesamt die Konzentration auf Italien ein grosses Plus, das das zu einer grösseren Einheitlichkeit führt. Und eben: die Ästhetik der Aufnahmen ist wärmer, realistischer als bei ECM (vergleichbar gut gefallen mir z.B. Aufnahmen aus dem französischen Studio La Buissonne, in dem z.B. ein grosser Teil der Sketch-Produktionen aber auch unzählige andere neuere französische Jazz-Aufnahmen entstanden sind.

Zu Egea gab’s vor nicht allzu langer Zeit in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel, den man auch online nachlesen kann.

Meine Egea-Bestände sind leider noch sehr bescheiden und beschränken sich bisher ausschliesslich auf Gelegenheitskäufe. Zum „roaster“ gehören u.a. Enrico Pieranunzi, Gabriele Mirabassi (von dem ich zwei tolle CDs habe, über die ich mich später äussern werde hier!), Guinga, Pietro Tonolo, Rafaello Pareti, Stefano Bollani, Paolo Damiani, Bebo Ferra, Gianni Coscia, Enrico Rava oder Danilo Rea. Aber auch Kennny Wheeler hat für Egea aufgenommen und als Sidemen tauchen viele weitere bekannten Namen auf: Gianluigi Trovesi, Marc Johnson, Paul Motian, Michel Godard, Franco d’Andrea, Dino Piana… Trovesi hat übrigens auf Egea die wohl lebendigste (jawoll, anti-ECM-Polemik mal wieder, I can’t help it…) Duo-CD mit Gianni Coscia gemacht, die auch den passenden Titel „Radici“ trägt (hievon später mehr, um ein wenig zu Walsern).

Und zu guter letzt noch ein Gedanke zur Aufnahme-Ästhetik: jede Ton-Aufnahme ist ja nicht bloss Dokumentation oder realistisches Abbild sondern Reproduktion und damit auch Interpretation – es gibt immer Alternativen: andere Mikrophone, andere Positionierung der Mikrophone, andere Dosierung der Instrumente… dazu die Erzeugung des Raumes, die auch mit verschiedenen Mitteln erzeugt werden kann, Hall, Echo, was weiss ich… in diesem Sinne ist es naiv zu glauben, irgendein Label bilde Musik „getreu“ ab.
Was man aber wohl sagen kann, ist, dass es Aufnahmen gibt, denen ein „echter“ Klang eher gelingt als anderen. Eine der schönsten finde ich – das ist jetzt komplett off-topic die „Bennie Wallace“ auf AudioQuest (Quartett-Aufnahme mit Tommy Flanagan), die ohne räumliche Trennung – mir kommt oft das Grauen, wenn ich diese 70er und 80er Session-Fotos sehe von Musikern in „booths“ und mit diesen Riesenkopfhörern auf während dem Spielen! Sowas kann doch einfach nicht sein! Natürlich ist auch die „authentische“ Atmosphäre – wie sie z.B. Mingus anscheinend bei „Mingus Presents Mingus“ erzeugen wollte, mit gedämpftem Licht und Ansagen, wie er sie an einem Konzert machen würde – ein Artefakt und ein Fake!

Jo, soviel mal für heute… jetzt hör ich mal in Ruhe weiter :wave:
Entschuldigt diesen eher unstrukturierten Beitrag, aber manchmal gehen mir die Rosse durch, und lange editieren mag ich sowas dann auch nicht…

Oh, noch was… in der erstgenannten Zurzolo-CD steht im Booklet was von ihm selbst, über seine Reisen in den drei genannte Ländern, und über die Mediterranea, ich zitier das mal in italienisch (das ich selbst auch gar nicht beherrsche, aber lesen kann man’s ja einigermassen – ceterum censeo latinum congonscemos – oder so ähnlich…)

„La scelta degli strumenti, sempre così varia negli ultimi anni, mi ha dato la possibilità di continuare il viaggio e di lasciare a questi suoni la forza del racconto di una storia mediterranea.“

Man braucht also nicht Braudel zu bemühen, ich hab da kein eigenes Konstrukt ersponnen, andere sehen/hören das auch :-)

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