Re: Europäischer Jazz

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gypsy-tail-wind
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Schwierig, die Jahre nach 1961 oder so zu überblicken… Wilen hat nur selten aufgenommen, hat sich ganz klar vom Mainstream/Hardbop wegbewegt, Weltmusik, Rock haben Eingang gefunden, aber auch Free Jazz.

1966 enstand „Zodiac“, ein Album für den „holy grail“-Thread… aufgenommen für Vogue mit Karl-Hanns Berger oder wie immer er sich damals noch gennant hat, JF Jenny Clark, Jacques Thollot, und dem Trompeter Raymond Court, der schon auf Gruntz‘ „Mental Cruelty“ dabei war. Das Album enthält zwölf den Tierkreiszeichen zugeordnete Stücke – ich kenne nur ganz kurze Auszüge daraus.

In diesen Jahren hat Wilen auch merhmals mit dem Schwedischen Pianisten Eje Thelin gespielt – zwei Sessions aus Schweden (Thelin war auch in Frankreich und hat dann in Graz gelehrt, ich glaub bis 1971?) sind auf einer sehr empfehlenswerten Dragon CD zu hören. Die Musik bewegt sich hier in ähnlichen Gefilden, wie das frühe Mangelsdorff Quintett – also kein Free Jazz, aber auch kein Hardbop mehr, sondern irgendwas dazwischen, mit viel Eigenständigkeit und vielen tollen Ideen.

Im Februar 1967 nimmt Barney dann an einer weiteren „holy grail“ Session Teil – er ist dabei als François Tusques sein Album „Le Nouveau Jazz“ einspielt. Mit ihnen wieder JF Jenny Clark, sowie Béb Guérin und Aldo Romano.
Dieses Album ist noch nicht so brachial wie viele der BYG Aufnahmen, die um 1969 in Paris entstanden, aber doch eine ziemlich wilde Sache.

Im Dezember desselben Jahres finden wir Wilen in Villingen, wo er mit Irene Schweizer und ihrem Trio (Uli Trepte,b; Mani Neumeier,d), Manfred Schoof und dem Dewan Motihar Trio (Motihar,sitar/voc; Keshav Sate,tabla; Kusum Thakur,tambura) die Saba-LP „Jazz Meets India“ einspielt – ein früher Klassiker der Weltmusik, und meiner Meinung nach ein ziemlich gelungenes Beispiel (wie auch das Album, das John Handy mit Ali Akbar Khan für Saba/MPS gemacht hat, „Karuna Supreme“).
Dieses Album wurde soeben von Promising Music neu auf CD aufgelegt, werd ich mir bald anschaffen müssen!

Der nächste „holy grail“ folgt 1968: „Auto Jazz – Tragic Destiny of Lorenzo Bandini“, wieder auf MPS. Dieses Album vermischt Aufnahmen von Renn-Geräuschen (vom 25. Grand Prix Automobile de Monaco) mit der Jazzgruppe von Wilen, Tusques, Guérin und Eddy Gaumont. Ein ziemlich tolles Experiment!

Weiter geht’s mit „Dear Prof. Leary“ – damit kommt Wilen in der Zeit der psychedelischen Rockmusik an… 1969 für MPS aufgenommen (und schon vor einer Weile bei Promising Music auf CD aufgelegt) vereint das Album Jazzer und Rockmusiker: Wilen,ts/ss; Joachim Kühn,p/org; Mimi Lorenzini,g; Günter Lenz,b/elb; Aldo Romano,d; Wolfgang Paap,d. Das ganze lief unter Barney Wilen & His Free Rock Band. Es enstanden (wie auch vom „Jazz Meets India“ Projekt) auch ein paar Radio-Aufnahmen. Das Album beginnt mit Lennon-McCartney (The Fool on the Hill), endet mit Otis Reddings „Respect“ und dazwischen hört man u.a. „Ode to Billie Joe“, ein paar Eigenkompositionen (darunter Kühns Titelstück), aber auch Ornettes „Lonely Woman“. Ein ziemlich wilder Trip, der grossen Spass macht!
Es sei hier angemerkt, dass redbeans und ich uns in der Bewertung dieses Albums und des unten erwähnten „Moshi“ nicht einig sind. Ich halte letzteres für einen grossen Wurf und „Leary“ für einen Trip ohne allzu viel Substanz, während redbeans das wohl in etwa umgekehrt sieht. So ca. 3,5 vs. 5 Sterne oder eben umgekehrt…

Auch 1968 taucht Barney Wilen auf einer weitere MPS-oddity auf: Dee Dee Barry and the Movements‘ „Soul Hour“. Das muss ich erstmal wieder ausgraben (nur MP3 leider, wie auch bei Auto Jazz… von Zodiac nicht mal das!), hat mich aber bisher noch nicht sehr angesprochen – weiss nicht mal mehr, ob ich’s überhaupt zu Ende gehört habe.

Dann ging Wilen mit einer Gruppe von Freunden nach Afrika… der Plan: den Kontinent durchqueren, dabei Film- und Musikaufnahmen zu machen. Das ganze sollte zwei Jahre dauern (Anfang 1969 bis Ende 1970) und von Tanger nach Dakar führen, durch die Sahara, den Niger, Mali…
Das musikalische Resultat erschien erstmals 1972 (oder schon 1971?) auf einer Doppel-LP, „Moshi“. Zu hören sind verschiedene MusikerInnen, u.a. Michel Graillier,elp; Pierre Chaze,g; Micheline Pelzer,d. Wie gesagt: auch diese Platte ist ein Trip, aber für mich einer der ganz besonderen Art, für mich eine absolut essentielle Scheibe! Man hört hier alles, von World-Jazz über Afro-Klänge, mäandrierdende Sax-Soli bis hin zu Calypso-ähnlich fröhlichen Songs (mit Gesang). Dazwischen immer wieder auch montierte Klänge, die wohl auf dieser Reise aufgenommen wurden (oder irgendwo – letztlich findet für den Hörer die Reise ja im Kopf statt, da ist das nicht mehr so relevant).

Danach wird die Diskographie Wilens für viele Jahre sehr dünn…

1978 spielt er mit Lee Konitz an Jams an der Grande Parade du Jazz in Nizza (Sidemen u.a. Jimmy Rowles, René Urtreger, Marc Fosset, Shelly Manne und Al Levitt).

In den frühen 1980ern enstehen einige Kuriositäten (siehe hier, sucht nach „1980’s“ um an die richtige Stelle zu kommen!)
Es scheint, dass Wilen in der Zeit Marie Möör kennenlernt, mit der er soweit ich weiss danach zusammenlebt und mehrmals zusammenarbeitet.

1983 wird das Konzert mit dem Synthesizer Ensemble Dièse 440 mitgeschnitten (Futura-Marge hat es neulich auf CD neu aufgelegt).

Wenig später folgt dann mit „La note bleue“ das grosse Comeback, das auch eine musikalische Rückkehr zum Jazz mit sich bringt. Loustal/Paringeaux veröffentlichen „Barney et la note bleue“, ihren „bande déssinée“ mit einer fiktiven Geschichte über Wilen, der daraufhin für IDA eine Reihe toller Alben beginnt, die ihren Anfang mit dem gleichnamigen „La note bleue“ nimmt, das 1986 oder 87 erschien… aber dazu dann mehr im nächsten Post!

Hier gibt’s einiges über den Comic-Band:
http://www.loustal.nl/MUSEUM77.HTM

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