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Anonym
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Shel Silverstein. Was macht dieser Mann eigentlich nicht? Von Bernd Glodek (Sounds 3/77, März 1977) (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Bernd Glodek).
Wohl jeder kennt irgendeinen seiner Songs von einem der ungezählten Interpreten. Aber nur wenige wissen, wer dieser Shel Silverstein wirklich ist: Song-Texter und Komponist, Cartoonist und last not least Kinderbuchautor. Ein wahres Multi-Talent also. Persönlich kennen ihn in der Bundesrepublik kaum mehr als ein Dutzend Leute. Aber auch in den USA liebt er nicht gerade die Publicity – er lebt zurückgezogen auf einem Hausboot in Sausalito in Kalifornien. Doch das war nicht immer so.
Aber erzählen wir die Geschichte von Anfang an. Anfang der fünfziger Jahre, während des Korea-Krieges, arbeitete Shel Silverstein für die Zeitschrift Stars and Stripes als Korrespondent und Cartoonist. Damit verschaffte er sich eine solche Reputation, daß Hugh Hefner ihn 1956 zum „Playboy“ holte. In der Mai-Ausgabe erschien eine einzige Karikatur von ihm – das Echo war so überwältigend, daß der „Playboy“ ihn als ständigen Cartoonisten beschäftigte. Und 1957 ging es dann richtig los: Shel Silverstein bereiste die Welt, und von allen seinen Stationen gab es ganz phantastische Cartoons, natürlich mit ihm selbst als Mittelpunkt. Silverstein in Moscow, Silverstein in Scandinavia, in Africa, among the Arabs, in Spain where he fights a bull, in London, in Italy, in Switzerland und viele Cartoons aus seinen Trips in den Staaten: Silverstein in Greenwich Village, in Miami, in a nudist camp, in Hollywood und auf dem Höhepunkt der Flower-Power-Welle Silverstein among the Hippies in Haight Ashbury.
An einen dieser Cartoons erinnere ich mich noch sehr gut. Man muß sich das einmal bildlich vorstellen. Silverstein in Switzerland. Ein großer Marktplatz mit einem überdimensionalen Brunnen in der Mitte, und zu dessen Fuße sitzt unser lieber Shel. Und dann dieser Text: „I’ll give them 15 more minutes and if nobody yodels, I’m going back to the hotel.“
Und zwischendrin – 1962 – machte Shel dann noch seine erste LP. Nachdem er seine Songs bis dahin nur Freunden vorgesungen hatte, überredeten ihn diese, seine häufig sehr satirischen Texte auf Vinyl zu verewigen. Diese LP INSIDE FOLK SONGS, die 1970 unter dem Titel INSIDE SHEL SILVERSTEIN noch einmal veröffentlicht wurde, ist mittlerweile unter Sammlern zu einer Rarität geworden.
Darauf befinden sich so herrliche Lieder wie „The Unicorn“ und „Blue Eyes“. In „The Unicorn“ findet sich eine durchaus einleuchtende Erklärung dafür, warum es heute keine Einhörner mehr auf der Erde gibt: Sie waren so verspielt, daß sie beim Einsetzen des Großen Regens Noah’s Arche nicht mehr erreichten. Mit diesem Song hatten übrigens sehr viel später (1968) die Irish Rovers ihren einzigen großen Hit in den Staaten. „Blue Eyes“, das Shel zusammen mit Rita Gardner singt, handelt von den unwahrscheinlichsten Ausreden einer Frau, wenn sie eigentlich nichts anderes als „Nein“ sagen will: ..There’s a big moat around my house / and it’s füll of croco-diles and alligators / and there’s a terrible under-tow. Well, you see it’s very late / and my mother is probably waiting up for me / and I think she washed the floor / and it’s covered with newspapers / and besides we got this big dog / that whenever a stranger comes in / he Starts to bark and bites you / and I’ve got to wash my hair / and I have to get up early for work. “
Charakteristisch für Shel Silverstein zu seiner damaligen Zeit ist auch die zweite Strophe des Songs „You’re always welcome at our house“: “ Then a lady came to our house / a lady came to find out / why I wasn’t in school / and we asked her to come in / and we gave her some poisoned lemonade / and we put her in the freezer / where it’s nice and cool. “
Shel, der Elternschreck
Und mindestens ebenso sarkastisch ist eines seiner ersten Kinderbücher, das etwa zur gleichen Zeit erschien: „Uncle Shelby’s ABZ Book“. Zu jedem Buchstaben des Alphabets hat Onkel Shelby eine Geschichte. Für W steht wash: „Did you wash your face today? Yes? Good! Did you wash your hands? Yes? Good! Did you wash your elbows? That’s silly – no one can see them.“
Und bei so viel Lebensweisheiten liefert Onkel Shelby gleich die Gebrauchsanweisung für sein Buch mit: ,,It is not nice to burn books / it is against the law / if your Mommy or Daddy tries to burn this book / call the police on them.“
Als besonderer Anreiz ist für unsere junge Generation auf dem Buchdeckel vermerkt: „Uncle Shelby has never gone to school!“
In den Jahren darauf zahlreiche weitere Bücher für Kinder jeden Alters: „Uncle Shelby’s Zoo“, „Giraffe And A Half, „The Giving Tree“, „Where The Sidewalk Ends“ und gerade erst Mitte 1976 „The Missing Piece“. Und dann ist da noch die Geschichte von „Lafcadio, The Lion Who Shot Back“. Es begann alles an dem Tag, an dem Jäger den Dschungel erreichten. Anstatt wegzulaufen, ging Lafcadio, der täglich Hunderte von Marshmallows aß, auf sie zu, um sie zu begrüßen. Als aber die Jäger antworteten, daß sie ihn erschießen wollten, war Lafcadio damit natürlich nicht ganz einverstanden. Also nahm er einem der Jäger das Gewehr weg und übte sich selbst im Scharfschießen. Von da an gab es nur noch lustiges Jagen im Urwald – jedenfalls für Löwen…
Aber gehen wir zurück zu Silversteins musikalischen Ambitionen. Ab 1964/65 hatten zahlreiche Interpreten mit seinen Songs große Erfolge. Johnny Cash hatte seinen größten Hit mit „A Boy Named Sue“, sang in Folsom Prison „25 Minutes To Go“, das von den letzten 25 Minuten im Leben eines Delinquenten vor der Hinrichtung handelt. Judy Collins und Julie Felix sangen „Hey Nelly Nelly“ und Peter, Paul & Mary ihre „Boa Constrictor“. Kris Kristofferson interpretierte „The Taker“ und Gordon Lightfoot „On Susan’s Floor“. Auch deutsche Interpreten haben jetzt Shel’s Lieder adaptiert: Gunter Gabriels „Komm unter meine Decke“ ähnelt verblüffend „Put Another Log On The Fire“. In der Mitte der sechziger Jahre wurden Silversteins Lieder erheblich sozialkritischer. Seine auf Cadet veröffentlichten LP’s I’M SO GOOD THAT I DON’T HAVE TO BRAG und DRAIN MY BRAIN (1973 wiederveröffentlicht als Doppel-LP CROUCHIN‘ ON THE OUTSIDE) zeugen beide recht deutlich davon. „They’re Testing The Bomb“ von der Live-LP I’M SO GOOD… hat immer noch oder wieder einen aktuellen Bezug: „They’re testing the bomb / as I’m singing this song / they say not to worry / ‚cause nothing can’t go wrong / they’re testing the bomb / as I’m singing this song / they say not to worry / ‚cause nothing ca.“
Superhits für Dr. Hook
Seit 1970 wurde Shel Silverstein dann auch in Europa bekannter, zumindest bei den Leuten, die auch schon mal eine Plattenhülle und die Mittelaufkleber einer Schallplatte aufmerksam durchlesen. Zunächst war da einmal Shel’s Freundschaft mit Ron Haffkine. Shel Silverstein machte die Lyrics und Music für den Film „Ned Kelly“, in dem Mick Jagger sein Filmdebüt gab. Ron Haffkine produzierte die Songs, die neben Mick Jagger vor allem von Kris Kristofferson und Waylon Jennings interpretiert wurden.
Shel und Ron waren bei gleicher Arbeitsteilung ein Jahr später beteiligt an dem Dustin Hoffman-Film „Who Is Harry Kellerman And Why Is He Saying Those Terrible Things About Me?“. Auf Haffkine’s Vorschlag bekam eine damals noch wenig bekannte Gruppe die Chance, neben Ray Charles den Titelsong „The Last Morning“ zu singen: Dr. Hook & The Medicine Show. Der Film wurde ein völliger Flop, aber Shel war von der verrückten Art der Gruppe so begeistert, daß er mit ihr spontan deren erste LP DR. HOOK & THE MEDICINE SHOW einspielte. Die daraus ausgekoppelte Single „Sylvia’s Mother“ wurde 1972 ein solcher Monsterhit, daß Shel, Ron und die beiden Bandleader der Gruppe, Ray Sawyer und Dennis Loccorie-re, beschlossen, ihre erfolgreiche Zusammenarbeit fortzusetzen.
Auch von der zweiten LP SLOPPY SECONDS und ihrem dritten Werk BELLY UP stammen alle Kompositionen von Shel Silverstein. Die Ergebnisse sind bekannt: Weitere Superhits in Reihenfolge „Cover Of Rolling Stone“, „Queen Of The Silver Dollar“, „Roland The Roadie & Gertrude The Groupie“ und „The Wonderful Soup Stone“. Erst mit dem Wechseln der Plattenfirma von CBS zur Capitol und den LP’s BANKRUPT und A LITTLE BIT MORE haben Sawyer/Loccoriere neben weiteren hervorragenden Kompositionen Silversteins auch eigene Texte aufgenommen. Das alles ändert aber keinen Deut daran, daß Dr. Hook ohne Shel Silverstein wohl heute noch als unbekannte Gruppe durch Kleinstadtkneipen tingeln würden (siehe auch SOUNDS 9/73 und 8/76).
Shel Silverstein selbst hat 1972 seine letzte eigene LP FREAKIN‘ AT THE FREAKERS BALL aufgenommen. Während er sich auf seinen ersten drei LP’s nur selbst auf der Gitarre begleitete, sind diesmal die Leute’von Dr. Hook mit dabei. Und Produzent ist natürlich Ron Haffkine. Diese von CBS veröffentlichte LP ist übrigens bis heute die einzige, die auch in Deutschland erhältlich war – mittlerweile ist auch sie wieder aus der Liste der lieferbaren Longplayer gestrichen. Zu den bekanntesten Songs gehören zweifelsohne „Sarah Cynthia Sylvia“ Stout Would Not Take The Garbage Out“ und „Stacy Brown Got Two“. Überhaupt bietet diese LP einen Querschnitt durch alle Phasen, die bisher von Shel Silverstein in seinen Liedern ausgedrückt wurden. Da ist neben „Sarah Cynthia…“ das sozialkritische „The Peace Proposal“, der Bezug zu Drogen in „I Got Stoned And I Missed It“, und da sind Songs voller Sex wie ,,Polly In A Borny“, „Masochistic Baby“ und eben „Stacy Brown“: “ They say that Stacy Brown was born/just a little bit de-formed/but still his girlfriends they all wake up smilin’every morning/everybody got one/Stacey Brown got two/but no one knows where the other one’s at/on his elbow, on his knee, or underneath his hat?“ Zu den Interpreten seiner Lieder in größerem Umfang gehören seit einigen Jahren nun auch so bekannte Leute wie Bobby Bare, Tompall Glaser und Loretta Lynn. Bobby Bare hat seit 1973 zwei LP’s ausschließlich mit Silverstein-Material gemacht, darunter „Daddy What if“, Bare’s wohl größtem Hit in diesem Jahrzehnt. Tompall Glaser (früher Mitglied der Glaser Brothers) hat ebenfalls auf einer ganzen LP ein Konzept von Shel Silverstein verwirklicht, darunter das schon erwähnte ,,Put Another Log On The Fire“. Und für Loretta Lynn schrieb Shel maßgeschneidert „Hey Loretta“.
Gerüchte und ein Flop
Neben seinem Hausboot mit angeschlossenem Studio in Sausalito besitzt Shel Silverstein zwar auch Appartements in Chicago und New York, wo er sich jedoch selten aufhält. Und so bleiben ob seines Lebens in der Abgeschiedenheit Gerüchte über ihn natürlich nicht aus. So soll er angeblich auf die Veröffentlichung eines Kinderbuches völlig verzichtet haben, weil der Verleger seinen Vorstellungen für die Umschlaggestaltung nicht zugestimmt hatte. Und Jolene-Sängerin Dolly Parton soll er die Interpretation von fünf seiner Songs verboten haben, weil er der Ansicht gewesen sei, Dolly Parton könne überhaupt nicht singen. Ein anderes Gerücht rankt sich um die erste und bislang einzige LP von Joanne Glasscock. So soll Shel mit der Begründung, daß seine Lieder so gut sind, daß jeder mit ihnen einen Hit haben werde und als Star groß rauskomme, mit verschlossenen Augen wahllos in ein Telefonbuch gegriffen haben; die Glückliche war angeblich Joanne Glasscock, mit der er alsdann eine ganze LP produzierte. Als Musiker wirkten dabei u.a. Dennis Loccoriere und John Wolters, der Drummer der Dr. Hook Band, mit. Und jetzt pssst: Die Platte wurde natürlich ein glatter Flop.
Und so kommt Gerücht zu Gerücht, daß selbst Eingeweihte häufig nicht mehr Wahrheit von Erfindung unterscheiden können. Verbürgt ist dagegen die Behauptung, daß Geld ihm absolut nichts bedeute. So besuchte er eines schönen Tages seinen Musikverleger in New York und bat ihn um etwas Geld. Daß ihm jedoch aus den letzten Monaten Tantiemen in einer Höhe von mehreren tausend Dollar zustanden, wußte er nicht und interessierte ihn auch nicht. Diese konnten ihm nur deshalb nicht zugestellt werden, weil er sich seit etwa zwölf Monaten nirgendwo mehr hatte sehen lassen. Auch war er brieflich nicht zu erreichen, da er die Mietgebühr für sein Postfach nicht bezahlt hatte. Und die Mahnung dafür hatte die Post ebenfalls ins Fach gelegt – nur das hatte Shel ebenfalls seit einem Jahr nicht mehr geleert.
He’s a real Anti-Star.
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