Re: Freejazz der 2. und 3. Generation

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gypsy-tail-wind
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Die Musik dieses 3CD Sets wurde 1976 in Sam Rivers Loft in New York aufgezeichnet, im Rahmen eines Festivals, das zwischen dem 14. und dem 23. Mai abgehalten wurde. Produziert wurden die Aufnahmen von Alan Douglas und Michael Cuscuna und soweit ich weiss hatte bei den meisten Veröffentlichungen Douglas seine Finger im Spiel… ich habd die Knit Classics Ausgabe von 1999, seither ist eine weitere CD-Ausgabe erschienen (möglicherweise dubios… dass Douglas seine Finger im Spiel hat spricht da ja noch nicht dagegen…).
Hier gibt’s einen kurzen Review:
http://www.culturevulture.net/Books/Wildflowers.htm

Alle Stücke stammen von den jeweiligen Leadern ausser wenn in Klammern was anderes angegeben ist. Ein paar Stücke („Jays“, „And Then They Danced“, „Blue Phase“ und „Tranquil Beauty“) enden mit Fades, sind aber komplett, die Fades geschehen dort, wo sie nahtlos in die jeweils folgenden Stücke übergehen. „The Need to Smile“ dagegen ist unvollständig aufgenommen worden, und „73°-S Kelvin“ und „Short Short“ sind Auschnitte aus längeren Stücken.

CD1
1 – Jays – Kalaparusha Maurice McIntyre – eine groovig-hypnotische Nummer zum Auftakt, mit Chris White am Elektrobass und Jumma Santos an den Drums. Kalaparusha improvisiert am Tenor mit muskulösem Ton über einem äusserst reduzierten Groove – gefällt mir ausserordentlich!
2 – New Times – Ken McIntyre Sehr anders der Sound hier, ohne Bass, dafür mit Piano (Richard Harper) und zwei Perkussionisten (Andrei Strobert an diversem Schlagwerk und Andy Vega an Congas) stürzt sich Ken McIntyre mit seinem eher dünnen, leicht säuerlichen Ton sofort kopfvoran in die Musik. Harper gibt der Musik mit einfachen Akkord-Folgen Halt und Struktur, McIntyre fliegt bald völlig frei drüber hinweg, überbläst, spielt mir rauhem Ton in die Tiefe hinab… sehr starke aber auch schöne Musik!
3 – Over the Rainbow (Harold Arlen) – Sunny Murray + The Untouchable Factor featuring Byard Lancaster Das Schaulaufen der Saxophonisten geht weiter mit Byard Lancaster, der am Altsax über „Somewhere Over the Rainbow“ improvisiert, mit aktiver Begleitung besonders von Fred Hopkins am Bass. Ebenso dabei: David Murray (ts), Khan Jamal (vib) und der Leader am Schlagzeug.
4 – Rainbows – Sam Rivers Es folgt der Gastgeber am Sopransax, begleitet von Jerome Hunter (b) und Jerry Griffin (d). Rivers beginnt solo, dann setzen die Begleiter ein, das ganze bleibt ziemlich frei, ohne festen Beat, Rivers Spiel ist engangiert und packt zunehmends.
5 – USO Dance (Henry Threadgill) – Air Als nächstes folgt das Trio von Henry Threadgill (hier am Altsax), Fred Hopkins (b) und Steve McCall (d). Nach einem tollen Bass-Solo zur Einleitung folgt Threadgill mit einem schlüpfrigen Solo. Ein tolles Trio, das ich immer wieder gerne höre.
6 – The Need to Smile (Sonelius Smith) – Flight to Sanity Diese Band ist eine von zwei Septetten: Olu Dara (t), Art Bennett (ss), Lancaster (ts), Sonelius Smith (p), Benny Wilson (b), Harold Smith (d), Don Moye (perc). Ist Drummer Harold Smith der Leader? Jedenfalls wird er im Booklet als erster aufgeführt. Die Musik ist wieder Groove-basiert, Wilson spielt ein sattes Lick, Sonelius Smith hämmert Akkorde, und Moye ergänzt an den Congas den schrägen Beat von Harold Smith, der mehrere Tempi suggeriert. Das erste Solo spielt Bennett, den ich überhaupt nicht kenne – er hat einen sehr schönen Ton und bläst ein seltsam statisches Solo, das vor der nervösen Begleitung beinahe zum ruhenden Pol wird (und irgendwie die Rollen von Solo und Begleitung vertauscht). Smith folgt mit einem kurzen Piano-Solo, über das sich aus der dichten Begleitung hinaus Lancaster mit dem Tenorsax erhebt. Auch sein Solo bleibt kurz und eingebettet in den freien Groove. Dara ist dann im Outro ein wenig zu hören, kriegt aber kein richtiges Solo.
7 – Naomi – Ken McIntyre Es folgt ein lyrisches Flötenstück von Ken McIntyre, über einer konventionellen Begleitung von Richard Harper am Piano und wieder mit den beiden Perkussionisten. Gut, zwischendurch ein ruhiges Stück zu hören! MyIntyres Ton an der Flöte ist weich, in Kombination mit dem Piano ergeben sich einige Passagen, die fast nach klassischer Musik klingen. McIntyre ist übringens der einzige, der mit zwei Stücken vertreten ist, allerdings tauchen diverse Musiker wie Byard Lancaster, Fred Hopkins, Olu Dara, Philip Wilson, Oliver Lake oder Don Moye in mehreren Formationen auf.
8 – 73°-S Kelvin – Anthony Braxton Braxton spielt im Sextett, mit George Lewis (tb), Michael Jackson (g), Hopkins (b), Barry Altschul (d) und Phillip Wilson (perc). Zum Auftakt spielt er Klarinette, Lewis bläst erstaunlich tiefe Töne an der Posaune, die Rhythmusgruppe (mit Piano!?) spielt einen dichten, typischen Begleitteppich, wie man ihn in dieser Spielart des Freejazz oft hört (Stop-and-Go vom Bass, Klänge und Gebimmel von den Drummern…), darüber streut Jackson hie und da elektrische Gitarrenlinien ein… ein Geflecht entsteht, das immer dichter wird. Aus dem dichten Teppich setzt Braxton zu einem japsenden Altsolo an… bevor Hopkins und die Drummer einsetzten und letztere zu ihrem Solo angeben, und genau da kommt der Fade-Out – schade, dass der gewählte Ausschnitt nach weniger als sieben Minuten schon um ist! Und grad bei Bruyninckx nachgeschaut: Anthony Davis spielt Piano und die Gruppe ist also auch ein Septett.
9 – And Then They Danced – Marion Brown Zum Ende der ersten CD nochmal ein älterer Musiker auf den Plan (Sam Rivers und Ken McIntyre sind ja noch früher schon auf Aufnahmen zu hören, Kalaparusha ist zwar auch schon Jahrgang 1936 aber erst Ende der 60er mit eigenen Aufnahmen aus dem AACM-Umfeld zu hören). Er spielt unbegleitet Altsax (er ist ja auch mit wunderbaren Solo-Konzerten hervorgetreten), erst ganz am Ende setzen Jack Gregg (b) und Jumma Santos (cga) kurz ein.

CD2
1 – Locomotif No. 6 (Anthony Davis) – Leo Smith & The New Delta Ahkri Ein zickiges kleines Motiv abwechselnd mit einer Piano-Passage von Anthony Davis und Einwürfen Lake, dann folgt Wes Brown am Bass, Smith bläst impressionistische Töne drüber, Paul Maddox und Stanley Crouch (! – er tut das wohl als Jugendsünde ab…) spielen impressionistisches Schlagzeug.
2 – Portrait of Frank Edward Weston – Randy Weston Randy Weston spielt ein wunderbares Stück, stilistisch ganz bei sich natürlich (überhaupt ist die stilistische Bandbreite dieses 3CD-Sets ziemlich gross!), groovig, afrikanisch (verstärkt durch die Congas von seinem Sohn Azzedin, Bass spielt der grosse Alex Blake, der bis heute mit Weston unterwegs ist, auch als ich ihn live sah… muss vorletztes Jahr gewesen sein).
3 – Clarity 2 – Michael Jackson Dann folgt Michael Jackson, der stchon bei Braxton zu hören war. Lake (ss,fl), Hopkins (b) und Wilson (d) bilden seine illustre Begleittruppe. Das Stück bleibt ruhig, sehr schön Lake an der Flöte.
4 – Black Robert – Dave Burrell Ein weiteres Piano-Trio, Burrell wird von Stafford James (b) und Harold White (d) begleitet und spielt eins der konventionellsten Stücke des ganzen Sets, über ein Bass-Ostinato, das auch von Weston sein könnte (aber eben mit normalem Drum-Kit und Latin statt Afro-Groove).
5 – Blue Phase – Ahmed Abdullah Abdullahs Stück klingt ein wenig nach electric Miles, mit der Gitarre von Masujaa, dem Soprasax von Charles Brackeen und der Trompete des Leaders. Dazu kommen zwei Bässe, Leroy Seals (elb) und Rickie Evans (b), sowie Rashied Sinan (d). Das Stück dauert über 12 Minuten, der Groove bleibt simpel aber Sinan und Masujaa weben verdichten die Begleitung immer wieder. Abdullah spielt das erste Solo, dann Brackeen kurz am Tenor, dann Masujaa, während der Groove stetig verdichtet. Die Soli fügen sich gut ins gesamte Geschehen ein. Dann folgt eine Kollektivimprovisation von Abdullah und Brackeen am Sopran, während sich der Rhythmus langsam auflöst…
6 – Short Short – Andrew Cyrille + Maono Cyrilles Band besteht aus Ted Daniel (t), David Ware (ts) und Lisle Atkinson (b). Das Stück klingt stärker nach dem Freejazz der Sechziger als das meiste, was man auf diesen drei CDs zu hören kriegt – dichte, nervöse Musik, nur Atkinson bleibt am Boden und spielt oft weniger, erdet die Musik ein wenig. Das Highlight ist für mich Cyrilles tolles Schlagzeugsolo – sonst kann ich mit dieser Gruppe (von der ich ausserdem nur ein paar Live-Aufnahmen kenne, nicht offizielles) nicht allzu viel anfangen.
7 – Tranquil Beauty – Hamiet Bluiett Eins der Highlights folgt dafür umgehend. Bluiett spielt Klarinette, Olu Dara ist diesmal ausgiebig am Kornett zu hören, Juney Booth (b), Charles Bobo Shaw & Don Moye (d) sowie die beiden Gitarristen Butch Campbell und Billy Pastterson (sp?) ergänzen die Gruppe. Der Groove ist langsam und sehr relaxt, bluesig. Bluiett bläst dann ein Barisax-Solo… wunderschönes Stück! Schade, dass es so schnell vorüber ist!
8 – Pensive – Julius Hemphill Zum Abschluss der zweiten CD folgt noch Julius Hemphill, ein weiterer Grosser dieser Generation. Begleitet wird er von Abdul Wadud (cello), Bern Nix (g), Wilson (d) und Moye (perc). Das fast zehnminütige Stück ist in der Tat nachdenklich, sanft steigt Hemphill am Altsax ein über die von Wadud dominierte Begleitung. Sehr schön!

CD3
1 – Push Pull – Jimmy Lyons Weiter gehts mit Jimmy Lyons, in gewisser Weise ein Bindeglied zwischen der ersten und der zweiten Generation des Freejazz. Stark von Charlie Parker beeinflüsst hört man ihn schon 1962 mit Cecil Taylors Trio (die grossartigen Live-Aufnahmen aus Kopenhagen auf „Nefertiti“), in den frühen 70ern hatte er sich zu einem der eindrücklichsten Saxophonisten entwickelt, der mit unglaublicher Kontrolle schier unmögliches bewerkstelligte. Als Leader hat er sich (neben seiner Arbeit mit Taylor, dem er bis zu seinem viel zu frühen Tod treu blieb) nur langsam einen Namen gemacht, es entstanden aber schöne Aufnahmen u.a. für Hat und Black Saint. Hier ist er mit seiner Partnerin Karen Borca am Fagott, Hayes Burnett am Bass und Henry Maxwell Letcher am Schlagzeug in einem kurzen Stück zu hören, das eine Brücke schlägt zwischen den lyrischen Aspekten des Ornette Coleman Quartetts und dem impressionistischeren Freejazz späterer Jahre. Auch Borca spielt ein überzeugendes Solo. Kurz, aber sehr schön!
2 – Zaki – Oliver Lake Oliver Lakes Thema erinnert auch an die melodiöse Form des Freejazz, wie man sie seit Ornette Coleman kennt, aber schon im Thema bricht die Musik aus. Mit ihm spielen Jackson (g), Hopkins (b) und Wilson (d). Hopkins – vielleicht der tollste Bassist aus dieser ganzen Szene – macht seine Anwesenheit spürbar, auch Wilson zu hören bereitet Freude. Jackson beschränkt sich während Lakes Solo auf minimalistische Einwürfe. Lake hat bei mir sehr viel „credibility“, aber so richtig umgehauen hat er mich bisher selten (live am ehesten in einem ad-hoc Trio mit Christian Weber und Dieter Ulrich, weniger im Trio 3). Dieses Stück hier zeigt das irgendwie: er spielt stark, direkt, no-nonsense. Aber es packt mich einfach nicht so richtig, auch wenn’s stellenweise tolle Musik ist, was er in diesem hochkarätigen Ensemble bietet.
3 – Shout Song – David Murray Murray Stück ist das kürzeste Stück der ganzen Aufnahmen, unter drei Minuten. Es ist ruhig, vor allem Hopkins ist wieder sehr präsent, wieder spielt Stanley Crouch (! nochmal !) Schlagzeug, darüber legen Murray und Dara das hübsche kleine Thema, aus dem Murray aber sofort ausbricht.
4 – Something’s Cookin‘ – Sunny Murray + The Untouchable Factor An zweitletzter Stelle folgt das zweitlängste (an letzter dann das längste) Stück. Dieselbe Band wie auf em dritten Stück (wo allerdings nur Byard Lancaster solierte) spielt das 17-minütige Stück von Leader Sunny Murray. Khan Jamals Vibraphon bringt eine neue Klangfarbe rein, die seit „Somewher Over the Rainbow“ nicht mehr zu hören war. Hopkins ist wieder sehr stark, und Murray selbst bringt dieses dichte, sehr trommelnde Spiel rein, das ihn schon über zehn Jahre früher mit Albert Ayler auszeichnete. Eine erste längere solistische Passage gehört Jamal, aber Hopkins/Murray machen sie zu einer Kollektivimprovisation. Es folgen starke Soli von Murray und Lancaster (am Altsax zunächst, später ist er auch auf der Flöte zu hören), Ein tolles Stück!
5 – Chant – Roscoe Mitchell Zum Ende folgt nochmal ein Highlight, ein höchst konzentriertes Stück (mit über 25 Minuten auch das längste) von Roscoe Mitchell am Altsax. Begleitet wird er von Jerome Cooper (perc, saw, d) und Don Moye (d). Ein erster Teil dauert ca. acht Minuten, Mitchell bläst ein intensives, repetitives Solo mit sattem Sound an der Grenze zum sich Überschlagen, die Drummer begleiten ihn in bester „fire music“-Manier. Dann, nach einem Moment der Stille, folgt eine ruhige Passage, in der Mitchell abstrakt spielt und von sparsamen freien Perkussionsklängen begleitet wird, daraus wächst ein Duo mit der Säge von Cooper (der auf dem linken Kanal zu hören ist, kann gut sein, dass er auch am Drumset eher links und Moye eher rechts zu hören ist). Dann wechselt Mitchell den Gang und spielt wieder konventioneller, allerdings eher noch wilder als zu Beginn, die Drummer ziehen mit und das

Zudem sei auf das grossartige Album von Charles Tyler hingewiesen, das bei Nessa Records erschien und auch vom Wildflower Festival stammt, Saga of the Outlaws:

Tylers Band bestand aus: Charles Cross (t), Tyler (as,bari), Ronnie Boykins & John Ore (b), Steve Reid (d,perc). Besonders die beiden Bässe tragen viel zur Atmosphäre des 37-minütigen Stücks bei.
Clifford Allen (von dem der unter Tyler oben verlinkte Text stammt) hat für AAJ einen ausführlicheren Review geschrieben.

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