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heliocentric worlds (1965)
gypsy tail wind
JAZZ OF A MINORITY
WBAI Radio, New York City
21 April 1964Group Panel Discussion with
Ornette Coleman, George Russell,
Mort Perry, Gunther Schuller,
Cecil Taylor, Leroi Jones.Topics include club owners, music critics, Downbeat editorial policies, free jazz and audiences, working class relation to music, social revolution and race, and free jazz and it’s relation to the space age.
A real rarity and sure to be a treat for anyone interested in 20th-century jazz and social issues.
mort perry: “what do you think about the present employment scene here in new york city?”
george russell: “well, there is none. because no one is working.”
so wird die erste frage des round table am 21. april 1964 beantwortet, und keiner von den prominenten anderen herren (coleman, taylor, schuller, baraka) widerspricht. es geht hier in etwas über 70 minuten über die situation der vertreter des „new thing“, und sie lamentieren, was das zeug hält: keine auftrittsmöglichkeiten weit und breit. die clubbesitzer sind schuld (sie wollen nur drinks verkaufen und haben von jazz keine ahnung), dann die kritiker (sie haben auch keine ahnung und wenn, wie z.b. baraka, dann werden ihre texte von den redaktionen um die empfehlungen der „neuen musiker“ gekürzt). das state department schickt statt duke ellington lieber benny goodman als jazz-botschafter in die sowjetunion („his music is dead für 20 years now“, russell). ornette coleman spricht von sozialen barrieren, die die akzeptanz der „neuen musik“ behindern und hofft auf einen schulterschluss von clubs und kritikern, um ihr mehr gehör zu verschaffen. die realität ist aber: die jazz gallery hat gerade zugemacht, wenig später wird auch das birdland konkurs anmelden. alle anwesenden diskutanten trauen auch den betreibern des five spots nicht viel zu. mit singender, etwas artifiziell nasaler stimme meldet sich cecil taylor zu wort, als einziger nicht im modus des jammerns und klagens, und macht den konstruktiven vorschlag: „let’s take jazz out oft he clubs!“ seine greenwich-village-erfahrungen haben ihn gelehrt, dass es dort orte gibt, in denen alle möglichen formen von musik zu hören sind, da sei jazz noch nicht von seinem (potentiellen) publikum getrennt worden.
auffällig still in der diskussion ist baraka. erst 1965, nach dem tod von malcolm x, wird er nach aus dem village nach harlem ziehen und ernst machen mit seinem black arts movement. das geld für das angeschlossene theaterprojekt soll ein benefit-konzert am 28. märz einbringen, in dem einige stars des „neuen thing“ auftrittsmöglichkeiten erhalten: shepp, coltrane, moncur, ayler, der junge charles tolliver und das sun ra arkestra. impulse ist dabei, schneidet mit und veröffentlicht wenig später THE NEW WAVE IN JAZZ.
was hier fehlt: das sun ra arkestra, und damit die vielleicht perfekteste materialisierung von dem, was baraka mit seinem „black arts repertory theater“ überhaupt will (es wird zu mehreren zusammenarbeiten kommen). selbst, wenn impulse sich dazu durchringt, die peripherie ihres haushelden coltrane abzuklappern, wird doch zum arkestra eine unsichtbare linie gezogen. das ist kein jazz, noch nicht mal ein new thing.
es braucht jemand anderen, unvorbelasteten, um sich der herausforderung des arkestras zu stellen. der junge anwalt bernard stollmann, der schon zeuge der „october revolution“ war, möchte sich in die welten begeben, in denen alles sich um die sonne, bzw. sun ra, kreist.
stollman, unbezahlter anwaltsgehilfe einer afroamerikanischen columbia-law-school-kommilitonin, die die finanzen von billie holiday und charlie parker regelt, kommt völlig ohne scheuklappen zum jazz, hilft musikern bei lizenzfragen, geht abends in jazzclubs, findet einen obskuren auftritt von albert ayler so toll, dass er dem saxofonisten verspricht, eine platte mit ihm zu machen, und hat ein besonderes faible für esperanto. ein diesbezügliches promotionsalbum wird nr.1 im „esp-disk“-katalog, albert aylers SPIRITUAL UNITY die nr.2.
mit etwas geld von seinen eltern will stollman das „new thing“ dokumentieren, er hat als anwalt mitbekommen, wie das mit moe ash und folkways läuft. ESP wird das bohème-label der greenwich-village-szene, jazz, folk, platten mit burroughs und leary erscheinen, nichts davon ist kommerziell gedacht, stollman lässt die musiker in richard aldersons „rla studio“ zack zack ihr zeug auf 4 spuren aufnehmen, mit manchen davon, wie z.b. pharoah sanders, redet er dabei kein wort, gezahlt wird sowieso nichts. erst, als anti-kriegs-bands wie the fugs und pearls before swine sich fragen, warum auch bei ihnen kein geld fließt, obwohl ihre alben ziemliche hits sind, redet sich stollman mit CIA-machenschaften und bootleg-attacken heraus und schließt mitte der 70er für’s erste seinen laden.
für sun ra und sein arkestra lässt er an zwei tagen sein studio aufschließen: am 20. april und am 16. november 1965. THE HELIOCENTRIC WOLRDS OF SUN RA entsteht – in der zweiten session das PART II (und mit material, das erst 35 jahre später wieder auftauchte, auch noch ein PART III). diese sessions sind denkbar schroff und wenig entertaining, allerdings im hohen maße ernsthaft konzeptioniert. verkauft hat sich das natürlich kaum, trotzdem waren die ESP-aufnahmen einer von drei startschüssen für sowas wie einen kleinen durchbruch der band (endlich!), da willis connover, discjockey für das nach europa ausstrahlende „voice of america“-radioprogramm die alben nachts in seiner jazzsendung spielte und damit den grundstein für erfolgreiche spätere europa-tourneen des arkestras legte (die anderen beiden startschüsse waren das vielmonatige montägliche slugs-engagement ab märz 1966 und abrahams verkauf von mehr als 30 saturn-alben an impulse 1972).
sobald man sich in die heliozentrischen welten des ersten albums einhört, wird einem klar, dass sie kaum noch etwas mit dem fröhlichen bildersturm in der judson hall ende dezember 1964 zu tun haben. keine space chants, keine theatralik, kein flötenvirtuose, kein exaltiertes schlagzeug-solo. überhaupt kaum soli. wir hören ein exakt geführtes avantgarde-ensemble mit absurden klangkontrasten: bass-marimba und piccolo-flöte, kesselpauken und celesta. kurze akzente wild geordneter instrumentengruppen, lange pausen dazwischen, ein bisschen walking bass und alles mögliche im tiefen klangspektrum. von marshall allen wissen wir, wie autoritär sun ra diese session dirigiert hat, immer wieder umarrangierend, handzeichen gebend, scharf umrissene effekte einfordernd. es dröhnt, stöhnt, seufzt in diesen aufnahmen. kaum ein längerer bogen, kaum entwicklung. es dominieren bassklarinette, bassposaune und die von ra selbst gespielte bass-marimba, solisten wie gilmore, patrick, allen und davis verschwinden in den effektspitzen des ensembles. eine kollektivimprovisation ist dabei und ein solostück für den leader, wo sich celesta und klavier gegenseitig den raum verschließen. am ende 2 minuten abstrahierter arkestra-swing, aus großer entfernung. heute nennt man die HELIOCENTRIC WORLDS eine der bahnbrechendsten aufnahmen des free jazz überhaupt – aber in der bahn fliegt das arkestra hier ziemlich allein.
bevor es zur zweiten ESP-session kommt, entsteht auf arkestra-proben noch ein saturn-album, das das free-konzept der band in einem anderen, organischeren licht zeigt. THE MAGIC CITY entsteht zur hälfte im april oder mai 1965, das 27-minütige titelstück im september, alles zusammen erscheint auf saturn 1966 und wird 1973 von impulse wiederveröffentlicht.
„the shadow world“ von der ersten session, wird bald zu einem standard im arkestra-programm. in einem höllisch schnellen freien swing grooven sich drummer jimmy johnson (der auf vielen arkestra-einspielungen dieser zeit zu hören ist – ich weiß wenig über ihn, es scheint so, dass er regelmäßig vor allem mit whalt dickerson zusammengespielt hat; im arkestra heißt er manchmal auch „jimhmi“), sun ra auf bass-marimba und kesselpauken, bassist ronnie boykins und weitere percussionspieler erstmal ein, bevor sich eine aggressive kollektivimprovisation entwickelt, in der immer wieder einzelstimmen (trompeter chris capers, john gilmore, ra auf piano und celesta) durchscheinen und dafür kurz allein gelassen werden. es gibt einzelne, aber klar als solche erkennbare kurze motive.
„abstract eye“ und „abstract ‚i‘“ von der gleichen session sind buchstäblich abstrakter, vor allem durch boykins gestrichenen bass dominiert. die bläser spielen mit dämpfern, ab und zu gibt es akzente von flöte oder marimba, schließlich dünnen sich die sounds in langen pausen um einzelne percussionakzente aus. hier ist man in der tat wieder sehr nahe am programm der heliocentric worlds. ein weiteres stück dieser session, „other worlds“, ist nicht auf THE MAGIC CITY zu finden, sondern auf dem blast-first-sampler OUT THERE A MINUTE. von ra, wieder gleichzeitig auf klavier und celesta, eingeleitet, hat man es hier wieder mit einer wilden kollektivimprovisation um einzelne soli zu tun, während johnson auf dem ridebecken einen schnellen free-swing spielt. hier glänzt vor allem gilmore durch ein high-energy-solo, dass ihn weit aus den irdischen sphären treibt. sun ra auf dem klavier vermag ihm zu folgen (toll, wie beim höhepunkt wieder die celesta, das „himmlische instrument“, dazukommt). man könnte diese art des free jazz schon wieder historisch finden; man möchte es aber auf jeden fall lieber live als auf konserve hören. zu keinem zeitpunkt hat man allerdings das gefühl, hier würde „einfach“ wild durcheinander gespielt. das arkestra bewegt sich sehr bewusst durch strukturierte räume.
das titelstück von MAGIC CITY ist (auf der evidence-cd) 27 ½ minuten lang (für vinyl musste 1 ½ minuten vorher ausgefaded werden). nicht nur die besetzung ist verändert (walter miller statt chris capers als trompeter, nur ein posaunist, dafür mit harry spencer ein dritter altsaxofonist und roger blank statt johnson an den drums), es tauchen auch andere klangfarben auf: ra spielt neben klavier diesmal nicht celesta, sondern das primitiv-elektronische clavioline, ein vorgänger des analogen synthesizers, das vibrierende quäksounds macht, die aber oft wie ein holzblasinstument klingen und sich interessant mit allens und davis‘ flöten verbindet) – und tommy hunter ist nach seinem filmstudium in schweden wieder dabei und setzt seinen reverb-effekt ein. die gesamte performance ist ziemlich toll, verhallter gestrichener bass, schrille flöten mit clavioline, gereverbte drums, darunter eine düster swingende bassklarinette von robert cummings. erst gegen ende kommen die anderen bläser dazu und sehr harmonisch entwickelt sich ein höllischer kollektivkrach, der – trotz mehrmaligem zurückrauschen in die stille – einfach nicht sterben will.
ein düsteres, schroffes, fremdartiges album insgesamt, ähnlich stark strukturiert wie die heliozentrischen welten, dafür aber immer wieder mit ausgespieltem high-energy-playing als aggressiver, himmelwärts gerichteter geste. es ist nicht viel magie im spiel bei der „magic city“, als die sich 1965 gerade die verhasste stadt birmingham werbemäßig verkauft. doch sun ras „magic city“ ist eher eine utopische fantasiestadt, die die irdischen unruhen schon in himmlische potentialitäten aufgelöst hat. für szwed ist MAGIC CITY ein zeichen für den wandel des arkestras, hin zu einer aggressiveren, konfrontativ auftretenden band-einheit.
am 16. november ist ein deutlich abgespecktes arkestra wieder im auftrag von bernard stollman in den rla studios zu gast. THE HELIOCENTRIC WORLDS OF SUN RA, VOLUME 2 entsteht – und mit weiterem bei der gelegenheit aufgenommenem material auch das erst 2005 erscheinende VOLUME 3.
die besetzung laut liner notes & discogs: sun ra (wieder auf dem neuen clavioline, klavier und bongos), walter miller (tp), keinem einzigen posaunisten, nur marshall allen am altsax (und flöte ), john gilmore, pat patrick (bariton und flöte), robert cummings (bcl), ronnie boykins und roger blank an den drums.
VOLUME 2 besteht nur aus 3 stücken, den beiden langen „the sun myth“ und „cosmic chaos“ und dem 4-minütigen „a house of beauty“, ein allen-ra-boykins-blank-quartett. die klanggestaltung ist deutlich heller, da die ganzen pauken, bassmarimben und posaunen fehlen. „the sun myth“ hält einen fluss aufrecht, keine abstrakten fragmente, die immer wieder in stille versinken, wie auf VOLUME 1. am ehesten knüpft „cosmic chaos“ daran an, hier kommt es aber immer wieder zu wilden tumulten der bläser, vor allem von gilmore und patrick, die eher die energie der „magic city“ sessions weitertragen. das kurze zwischenstück ist dagegen völlig anders – hier führen schrille piccoloflöten- und clavioline-linien in eine art freie cocktail-piano-ballade, ein mood peace, das von boykins harmonisch abgesichtert wird und das am ende wieder in merkwürdig quäkende clavioline-sounds übergeht.
VOLUME 3: das albumseiten lange stück „intercosmosis“ eröffnet mit einem gilmore-solo, in das sich allmählich ra einmischt. danach funktionieren diese 17 minuten hauptsächlich als duo-interplays, wobei sich die spieler und damit die klangfarben sehr unangestrengt abwechseln. wie bei den anderen aufnahmen dieses jahres ist auch hier das aggressionsniveau ordentlich, wobei es sich eigenartigerweise im kollektivimprovisationsteil abschwächt, fast stellt sich der effekt einer ratlosigkeit ein. den rest bilden vier kurze, d.h. etwa 5-minütige stücke. „mythology metamorphosis“ fängt mit einem percussion-teil an, indem vor allem roger blanks toll verschobener rhythmus auffällt. danach folgen erratischere sounds, ra holt doch noch einmal die bassmarimba heraus. „heliocentric worlds“ hat sogar einen durchgehenden walzerrhythmus (boykins spielt walking bass), den ra ironisch auf dem klavier aufgreift, mit der celesta aber wieder aushebelt. am ende verrätselt sich alles erneut mit einem klavier-celesta-duett und unheilschwangeren beckencrescendi. auch „world worlds“ hat zunächst einen quasi geradlinigen groove, der von unisono ausbrechenden bläsern punktiert wird. dann gibt es überraschend tonale harmonien.
und plötzlich ein posaunensolo –hä? schon in „intercosmosis“ meinte ich zwei altsaxofone gehört zu haben. stimmen hier die diskografischen angaben nicht? es kann sich eigentlich nicht um die session vom november handeln, wo kein posaunist dabei war. einem kommentator auf discogs ist das auch aufgefallen, er vermutet, dass teddy nance dazugestoßen ist. eigenartig aber, dass ra hier auch bassmarimba spielt, dass sein clavioline fehlt, statt dessen wieder die celesta im einsatz ist. eine dritte session also? ich finde im netz nichts dazu. was ich da aber finde, ist die information, dass das fünfte stück, „interplanetary travellers“ identisch ist mit dem lost track „other worlds“ aus den „magic city“ sessions (das dann auf der blast-first-cd gelandet ist). das ist laut campbell jedenfalls nicht von einer ESP-session. offensichtlich kann man deren angaben nicht trauen (obwohl es offensichtlich im netz jeder tut.) eigenartig… wer mag, kann da mal etwas tiefer graben.
zuletzt geändert von vorgarten--