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revolution.
was für ein tolles bild. wir sehen hier das erste veritable jazz-kollektiv, angetreten, um sich von den verbrechern des markts unabhängig zu machen und eigene formen der auswertung ihrer kreativität zu finden. 1964, zur zeit von sogenannten rassenunruhen, in einem musikalischen umbruchmoment, wo der jazz (zumindest dieser herren und dieser dame) keine kommerzielle selbstverständlichkeit mehr war.
wir sehen in der hinteren reihe bill dixon, paul bley, michael mantler und archie shepp; in der mitte jon winter, sun ra, carla bley und cecil taylor, und vorne burton greene, roswell rudd und john tchicai. es fehlt alan silva. und milford graves vielleicht als ‚inoffizielles mitglied‘. und amiri baraka natürlich als reinquatscher und politisierer.
das tolle daran: das gegenteil einer homogenen gruppe, deshalb fast eine utopie. weiß und schwarz fast paritätisch vertreten, dazu eine FRAU (!!!) – und, mit ra und taylor, zumindest zwei musiker, die nicht gerade heterosexuell waren. alles vielleicht kein wunder, wenn man den bohemistischen hipsterhintergrund des east village als biotop heranführt, der ja zu dieser zeit gender- und rassengrenzen zumindest teilweise aus den angeln hob.
die „jazz composers guild“, hervorgegangen aus erfolgreichen konzertreihen von bill dixon im juni und oktober des jahres 1964, hielt ein knappes halbes jahr. und das utopische bild trübt sich darüber. natürlich war es eine riesige interne diskussion, ob carla bley dabei sein durfte. natürlich zerbrach das kollektiv am erfolg einzelner. und natürlich waren rassenunterschiede und männlichkeitskonzepte dabei ein großes thema.
die ’schöne‘ geschichte: bill dixon organisiert im juni konzerte an einem typischen village-alternativ-ort, dem cellar cafe, konzerte mit avantgardistischer musik. er lädt musiker und bands ein, die er besonders findet, völlig unabhängig von ihrer hautfarbe. sun ras arkestra ist dabei. von diesem erfolg angefeuert, veranstaltet dixon, unterstützt diesmal von archie shepp, die „october revolution in jazz“, vier nächte mit neuer musik, ohne anzeigen, ohne elektrizität, mit paul bley, jimmy giuffe, cecil taylor, steve lacy, andrew hill, milford graves, sheila jordan, john tchicai, roswell rudd und anderen, unter großem interesse vonseiten der presse. sun ras arkestra ist wieder mit dabei. und auch der junge anwalt bernard stollmann, der die euphorie des publikums mitbekommt, sich vornimmt, all diese bands aufzunehmen, und dann das label ESP gründet.
daraufhin gibt es regelmäßige konzerte, diskussionsrunden, treffen, eine gruppe schält sich heraus, die ein bankkonto eröffnet und regeln aufstellt: die jazz composers guild. eigenverantwortlich, selbstvermarktend, unabhängig will sie sein: die weißen sind dabei, weil sie eine vermarktungsinfrastruktur für unverkäufliche musik aufbauen wollen, die schwarzen auch, weil sie sich nicht mehr von weißen managern ausbeuten lassen möchten. als konzerte in einem tanzprobenraum direkt über dem village vanguard organisiert werden, die z.t. mehr publikum anlocken als der traditionsjazzclub, scheint diese geschichte wirklich glücklich aufzugehen.
aber es gibt auch die schlimme geschichte: alan silva ist dabei, weil sun ra sein großes vorbild (als konzeptionalist von jazz als sozialer erfahrung – und als vorreiter eines unabhängigen musikvertriebs) ist und er ein ideal von kollektiver improvisation hat. der trifft ausgerechnet auf carla bley, die nicht improvisiert. bley wiederum trifft als weiße frau auf den misogynen männerbündler ra. amiri baraka, der buddy von shepp, hofft auf eine selbstermächtigung schwarzer männlichkeit und ärgert sich über die vielen weißen (vor allem über den juden greene), über den schwulen avantgardisten cecil taylor (der doch lieber mit den ebenso gepolten cages und tudors auf europäische kunst machen soll), vor allem aber über den so unmachistisch auftretenden bill dixon, dem er gerne die führungsfigur abjagen will. shepp pöbelt ein bisschen mit, aber sieht eigentlich eher ein klassen- als ein rassenproblem. aber wie baraka fühlt er sich im recht, sexuelle ansprüche auf weiße frauen anzumelden (was wiederum – auch in programmatischen texten – abbey lincoln ärgert).
dieses gemisch kann nur in die luft gehen. carla bley fühlt sich ungeliebt und geht nach europa. baraka fühlt sich auch ungeliebt und zieht aus dem ethnisch gemischten, sexuell ambivalenten village nach harlem, um auf black nationalism zu machen. archie shepp hat plötzlich einen plattenvertrag mit impulse und teilt das geld und die entscheidung nicht mehr mit der gruppe. es folgen dixon (savoy) und taylor (blue note). schon vorher will dixon die aufnahmen der guild an einen plattenfirma verkaufen, silva dagegen will sie selbst veröffentlichen (nach vorbild von saturn). dixon steigt als erster aus, ra als nächster.
die musik. zwischen dem 28. und dem 31. dezember gibt es nochmal 4 tage konzerte, panels, aufnahmen. presse und publikum erscheint wieder zahlreich, diesmal in der judson hall. sun ras arkestra ist wieder mit dabei, in einer 15-köpfigen besetzung, der größten seit den chicagoer zeiten. die aufnahmen, die es von (mutmaßlich) zwei auftritten davon gibt, sind ein einziges glück. zunächst auf einer lp bei saturn als FEATURING PHAROAH SANDERS AND BLACK HAROLD erschienen, später erweitert auf einer cd desselben titels um 45 minuten material, in der IN THE BEGINNING box des prä-coltrane-sanders schließlich nochmal um 25 minuten bereichert.
die besetzung hat drei pointen: farrell sanders, von ra in „pharoah“ umgetauft, anstelle des fremdgehenden john gilmore; der obskure „black harold“ (ein birmingham-spezi von ra mit vorliebe für namensänderungen: „eigentlich“ harold murray, später sir harold, brother atu und atu murray) an flöte und „talking drum“; und – selten erwähnt -: der tolle alan silva statt ronny boykins am bass (mit mehreren soli ziemlich präsent). der rest: al evans und chris capers (tp), teddy nance und bernard pettaway (tb), robert northern (french horn), marshall allen und danny davis an flöten und altsaxofonen, robert cummings (bcl), pat patrick (bs), clifford jarvis (dm) und – mit einigen schönen instrumentalen vokaleinlagen – art jenkins (the space voice).
so sieht das original aus, 1976 auf el saturn records erschienen. es sind nur vier stücke darauf (eigentlich sechs, aber manche zusammengesetzt), die eigentlich ziemlich schön abbilden, was da passiert: reflektierende passagen, komponierte fragmente, kollektive fire music, ein space chant (rocket no. 9), ein special event (black harold mit einer kirkschen flötenstudie, die auf großes entertainment setzt und viel beifall bekommt) und ein extrovertiertes sanders-solo, das sich aber lupenrein zwischen allen und davis einordnet. das alles in dumpfem mono und ohne die möglichkeit, die theatralische performance des arkestras nachzuvollziehen, die der baraka-freund a.b.spellman für „the nation“ so fassungslos protokolliert hat:
this group seem either utterly insane or sickeningly corny… musicians start talking in the middle of the piece about getting off at jupiter and about martian water lillies… they did a good deal of walking around under blinking, multi-colored lights… yet, yet… well, you had to be there.
so sah die esp-cd aus, die 2009 mit rätselhaften bonustracks in tadellosem stereo erschien. da ich leider keine booklets der re-issues habe, kann ich nur auf irgendwo gelesenes rekurrieren, wo stand, dass es sich hierbei um aufnahmen vom vortag, also vom 30.12.1964 handelt. musikalisch erweitert sich da einiges: sun ra ist mit einem unglaublichen cluster-solo zu hören, hoch energetisch, am ende, nach der beruhigung, sich mit der anderen hand an der celeste begleitend (tollster ra-solo-moment der bisherigen diskografie). in einem stück ein 11(!!)-minütiges clifford-jarvis-solo, großartig gebaut, wenn man auf ihn steht, ein einziger rausch. dann gibt es endlich auch einen patrick-moment und diverse passagen, die sehr klar komponiert sind, so dass sich eher der suiten-effekt von OTHER PLANES OF THERE einstellt als der eines new-thing-happenings. es gibt weitere, sehr unterhaltsame space chants, „second stop jupiter“ und eine 9-minütige version von „we travel the spaceways“, wo man das arkestra sich im raum bewegen sieht (geistig) und den entertainmentfaktor abschätzen kann.
diese box schließlich bietet, neben interviews, die kaum zur sache gehen, weiteres material. diesmal wieder in mono, so dass man davon ausgehen kann, dass das am 31.12. aufgenommen wurde, also beim gleichen konzert wie das der saturn-lp. hier sind nochmal richtig tolle sachen dabei – u.a. ein langes talking-drum-solo von black harold (wahrscheinlich), das in einen grandiosen polyrhythmischen beat von jarvis mündet, an dem die auf percussion wechselnden anderen arkestramitglieder aber großen anteil haben. außerdem noch mehr space chants, noch mehr kollektiv-improvisationen, noch mehr reflektierende, nachdenklichen passagen. was für ein – insgesamt – reiches programm, voller abwechslungen, eigenartigkeiten, juwelen. wie toll auch, so ein live-dokument des arkestras zur verfügung zu haben, das von verschrobenheit wie von entertainmentbewusstsein gleichzeitig zeugt. was für eine unglaubliche band. für mich gehen diese aufnahmen weit darüber hinaus, nur dokument zu sein – sie sind ein unerschöpfliches reservoir kollektiver kreativität.
dass pharoah sanders darin gar nicht großartig auffällt (von seinem tollen ton abgesehen), spricht nicht dagegen. eher im gegenteil. alan silvas rekonstruktion seiner ersten arkestra-erfahrung sei in einem zitat aus diesem tollen interview gespiegelt. (wer mehr über die jazz composers guild und ihre internen konflikte lesen möchte, dem sei wiederum dieser fantastische text empfohlen):
zuletzt geändert von vorgartenIn the early 1960s I was in a very intricate community of painters, and creative people. I was starting to see that something was emerging from this soup of Downtown. I felt that Ornette and Cecil were contemporary and I felt I should move with them. I wanted to learn American music. Meeting those guys, working in different scenes – contemporary American music, folk music, American Indian music, I realised that there should be no classification. It was world music, the vernacular. There were folk bands, ukulele bands, Peter Paul and Mary, the whole American folk music scene was all happening in the Village. There was John Cage, Morton Feldman, Allen Ginsberg, Charles Mingus, Edgard Varèse, Cecil Taylor. Donald Byrd and I went to a concert of Ravi Shankar. And one day I ran into Sun Ra. I’d heard his music from „Jazz In Transition“ [1957], and I met him when he did his first coffeehouse gig with his band. Fantastic! He had some fantastic players. As a listener I could locate people; they each had their timbre, John Gilmore, Marshall Allen, Pat Patrick, Ronnie Boykins on bass. It changed my way of thinking – Sun Ra replaced Ellington as my idea of what an orchestra should be. I have always been a supporter of orchestral music, and my career reflects that: symphony orchestra is not our tradition – big bands are, and in 1962 Sun Ra was the sum total of what I wanted to be. Collective improvisation was what I wanted to do, and Sun Ra coming to New York was a major event in my life. I had gotten deep into New Orleans music when I was about 18 or 19 – Jelly Roll Morton for me was an absolutely modern composer, the first original American composer – I felt Armstrong’s music and Morton’s music weren’t old at all. And Ra for me was the key, because he had worked with Fletcher Henderson. (…)
My collaboration with Sun Ra started back in 1962. We were in the Jazz Composers Guild together, and as I told you, in the Guild I was in charge of records and music education. Well, Ra was one of the greatest music educators there has ever been: he took musicians and educated them himself from scratch. Goddamn, I could write a book about what I learned from him. I learned that if you want to go into the business, you gotta have a concept, a meaning in your music bigger than the music itself. I learned that there had to be a spiritual involvement in making art. That doesn’t necessarily mean believing in God, but it means there has to be an inner emotional drive to create something. Sun Ra developed a whole world. I played with his band on several occasions (I never moved into the house at 48 East 3rd Street with them.. I was married – but my wife and I had a very good relationship, and she let me do my work). I brought him some scores of mine, some arrangements. Improvisation didn’t need composers, but I felt it needed arrangement and orchestration. I had studied Schillinger (who had come to the US in 1928 with his huge mathematical system in place – Gershwin studied with him) and George Russell’s Lydian Chromatic Concept, and I was thinking about multiple line structures, how to have ten instruments playing at the same time with different relativity. There’s counterpoint in European music – a fugue for example is a three or four line structure, but there’s always one harmonic structure underlying it all. I see European counterpoint as basically a vertical / horizontal orchestration of one melody, not ten.
It’s fair to assume Sun Ra knew Schillinger’s books, I suppose.
Oh yes, he read.. Sun Ra always talked about music as formulas. He’d been in the music business since he was a kid. When I showed him my score he said: „You won’t find any musicians to play this score. Nobody’s thinking like that, Alan.“ I said: „What do I do?“ He said: „You stay with me – I got the band.“ Marshall Allen, John Gilmore, Pat Patrick and Danny Davis were great, great players. Multi-instrumentalists too: Sun Ra expected his musicians to play several instruments, and everybody had to play a percussion instrument. My move towards the cello and violin was his idea. I was in and out of that band from 1964 to 1970 and I probably would have stayed with them if I hadn’t moved to Paris.
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