Antwort auf: Sun Ra

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vorgarten

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pre/free. OUTER PLANES OF THERE recordings (1964)

1964 ist die situation für sun ra und das arkestra auf einem neuen tiefpunkt angelangt. von seinem spirituellen und geschäftlichen mitstreiter alton abraham, der natürlich immer noch in chicago sitzt und dort das saturn-label „betreut“, entfremdet sich ra immer mehr. seit kurzem nimmt abraham sogar andere bands und musiker für el saturn auf, r&b, muhal richard abrams und eine single in tagalog. ra lernt in new york zwei produzenten und toningenieure kennen, mit denen er in den nächsten 30 jahren immer mehr zusammen arbeiten wird: fred vargas und warren allen smith, ein schwules paar, das seit 1961 das audiosonic studio betreibt, zunächst im brill-gebäude am times square (in kluger direkter broadway-nähe), später, als „variety recording studio“ in der west 46th street. zu direkten jobs führt das aber erstmal nicht.

die musiker müssen sich wohl oder übel nach anderen jobs umsehen. auftritte für das arkestra sind nach wie vor rar. marshall allen und pat patrick arbeiten mit dem nigerianischen ausnahme-drummer olatunji zusammen, dessen afrikanisches totaltheater im zuge einer afro-mode (harry belafonte landete gerade in den popcharts, olantunjis drum-alben kamen gut an) zu jobs führte, unter anderem bei der new yorker world fair. im mai des jahres geht tommy hunter nach schweden, um dort an einer filmhochschule zu studieren. im august 1964 schließlich verlässt john gilmore das arkestra, um wayne shorters nachfolger bei art blakeys jazz messengers zu werden (er kehrt ende märz 1965 zurück).

zuvor aber entsteht noch ein außerordentlich geschlossenes album, dessen material bis auf ein stück in einer session aufgenommen zu sein scheint und das arkestra in einer reflexiven, melancholischen intensität dokumentiert: OTHER PLANES OF THERE, 1966 von ra und abraham auf el saturn veröffentlicht.

OTHER PLANES war eines der ersten alben, die ich von ra gehört habe – nach LANQUIDITY, aber vor den älteren sachen aus chicago. ich mag es vom ersten bis zum letzten ton sehr gerne, ohne dass darauf etwas tatsächlich spektakuläres passieren würde. die tonqualität ist schlecht, dumpf und wenig ausbalanciert, verhallt, etwas depressiv in den raum geworfen, als ob niemand damit rechnen würde, dass jemand eventuell zuhören möchte. trotzdem ist das kein jam, kein versuchsweises zusammenfügen von material und stimmen, die im raum sind. das arkestra nimmt sich sehr bewusst freiheiten, wechselt reflektiert zwischen aggressiven und nachdenklichen momenten, hört sich zu, setzt ideen ingang und fängt sie an anderer stelle wieder auf.

zur kernbesetzung ra – gilmore – allen – davis – patrick – boykins kommen drei posaunisten (teddy nance, bernard pettaway und ali hassan), der trompeter walter miller aus birmingham ist wieder dabei, an den drums sitzen roger blank und lex humphries.

das titelstück geht mit 22 minuten über die gesamte erste seite. aus einem ungreifbaren, kollektiv gespielten akkord (ist das der berüchtigte „space chord“?) entwickelt sich eine suitenhafte abfolge von soli, die immer wieder ins kollektiv fließen. zwischendurch einige spontan klingende duo-passagen, manchmal als übergang zwischen den soli. jeder einzelne musiker bekommt einen auftritt, der aber in keinem fall suchend, wirklich frei absolviert wird, sondern vorüberlegt scheint, das gesamte stück und seine notwendige dramatisierung im langen bogen vor augen. sehr gut gefällt mir walter miller, der ein bisschen chet-baker-hafte verlorenheit setzt, boykins greift das auf, setzt aber immer entschiedenere stopps in seinem soli ein, schließlich steigen alle bläser ein und steigern die intensität, aus der aber wieder nur die einsäm quäkende oboe von marshall allen übrigebleibt. aus einem versonnenen moment von ra steigt dagegen der überblasene krawall von john gilmore empor, und die wiederum dadurch initiierte klavierklangwand macht raum für ein sehr klar strukturiertes motivisches posaunen-solo. letzte aggressionsschübe kommen schließlich von beiden altsaxophonisten, diesmal auch mit voll einsteigenden drums. immer, wenn das kollektiv einfällt, bleibt es meist auf einem akkord, woran man sieht, wie vorstrukturiert das alles ist. das finale mündet folgerichtig wieder in den akkord des anfangs. ohne themen, durchgängig im rubato, werden diese 22 minuten keinen augenblick lang langweilig, kommt niemals der eindruck auf, dass etwas beliebiges stattfinden würde. ra webt alles zusammen, jeder moment ist ein präzises echo auf den moment davor.

„ich spiele keine freie musik, denn es gibt keine freiheit im universum. wäre man frei, könnte man einfach irgendwas spielen, es käme nicht darauf an und würde nicht auf dich zurückfallen. aber: alles fällt immer auf dich zurück. deshalb warne ich meine musiker immer: achtet genau darauf, was ihr spielt. jede note, jeder beat, sei gewiss, fällt auf dich zurück. und wenn du etwas spielst, das du selbst nicht verstehst, dann ist das schlecht für dich und schlecht für die menschen.“ (sun ra)

„sound spectra“ eröffnet die zweite seite mit einem schlagzeugsolo, das in einem tollen multirhythmischen angebot ausläuft, in das walter miller einsteigt. fanfare, aggressives wegrutschen und lyrisches innehalten. ra und boykins kommen dazu, in einem offensiv dagegengesetzten rhythmus. ein groove liegt in der luft, der aber nicht losgeht. miller zitiert „it ain’t necesserily so“. die dichte steigt durch zunehmende percussion, aber der groove geht immer noch nicht los. die besen des drummers spielen am ende wieder für sich. ein paar schläge auf strafferes fell im raum und im reverb als echo. auch hier: wie genau das gebaut, zusammengesetzt ist.

„sketch“. auch hier führt der titel auf eine falsche fährte. ra stellt akkorde vor, gilmore ein veritables thema. walking-bass und swing-begleitung. der straight-ahead-ansatz läuft aber gleich wohlkalkuliert aus dem ruder, erst durch das immer dissonantere ra-solo, dann folgt ein unglaublich klar strukturiertes, in immer weitere umlaufbahnen geratenes gilmore-solo, das eine vom raum zurückgeworfene klangwand bildet, bevor die band im swing wieder zurückfedert.

im genauen bewusstsein für damatische kontraste folgt danach das große, durchatmende, dunkel funkelnde patrick-solo „pleasure“ (war mal ein bft-beitrag von mir). es klingt wie eine komplett ausgeschriebene ballade, aber patrick mäandert an einer melodielinie eher entlang, als dass er sie spielt – und sein ton wird dabei immer klagender, existentieller. ohne zu zerbrechen, vereinzeln die stimmen am ende, bis nur noch ein paar suchende töne in der hohen klavierlage von der bühne treten. das alles in unter vier minuten.

„spiral galaxy“ ist nochmal was ganz anderes, auch hörbar aus einer anderen session. es setzt sich einer dieser arkestra-space-märsche ingang, auf einer ambivalenten, aber klar nach vorne gerichteten percussion-bewegung. boykins spielt dagegen ein sehr eindeutiges ostinato. patricks bariton grummelt unten dagegen an, ras klavier ist irgendwo hinten und kaum zu vernehmen. kollektive crys der bläser laden den groove auf, allen spielt wieder oboe, davis diesmal flöte. am ende hört man virtuell ein publikum, denn diese musik hat wieder einen show-appeal, ist für zuhörende menschen gemacht. es bleibt am ende der eindruck, dass diese band wirklich weiß, was sie macht – und dass alles, was sie produziert, auf sie zurückfallen wird.

auf den straßen ist natürlich einiges los. auch wenn sun ra längst bestreitet, einmal in birmingham geboren worden zu sein, weiß man natürlich, dass martin luther king dort, in der „metropole der rassentrennung“, ein paar monate zuvor 8 tage im gefängnis gesessen hat.

schließlich beginnt am 14. und 15. juni 1964 im cellar cafe, organisiert von bill dixon und dem filmemacher peter sabino, eine konzertreihe, die später zur sogenannten „oktoberrevolution im jazz“ und dem „new thing“ führen sollte. sun ra und das arkestra sind von anfang an dabei. pharoah sanders ist der neue tenorsaxofonist. und bernard stollman, der chef des ESP-labels wird auf das arkestra aufmerksam. sun ra, der zwar nicht in jazzclubs gebucht wird, der aber schon lange im kontakt mit avantgardisten von coltrane bis sharrock und rahsaan kirk steht, ist mittendrin – und doch wieder nicht. aber dazu später.

zuletzt geändert von vorgarten

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