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1962/63 : der weg in die abstraktion
im choreographers workshop wird neues material eingespielt. eine seite von THE INVISIBLE SHIELD kommt zustande (1974 dann mit material von 1970 auf seite zwei veröffentlicht). wir trauen unseren ohren nicht: es sind wieder standards. zum teil die gleichen, die das arkestra in chicago schon (ziemlich toll) für HOLIDAY FOR SOUL DANCE eingespielt hat. „sometimes I’m happy“, „time after time“, „but not for me“, „easy to love“, „sunny side up“. gerade sun ra balanciert dabei auf einer schmalen linie zwischen in und out, während jemand wie gilmore diesen spagat mühelos hinbekommt. personell gibt es hier ein paar signifikante veränderungen: der ziemlich heiße und sehr polyrhythmische swing mit dominanter bassdrum kommt von clifford jarvis (mit boykins zusammen ein ziemlicher knaller), allen und patrick fehlen, und dann macht ein neuer trompeter auf sich aufmerksam, der mit verblüffender virtuosität recht traditionell spielt, aber tolle melodische wendungen hinbekommt und eine herausforderung vor allem für gilmore wird: walter miller. dessen eigenartige karriere neben seinen gigs als jazztrompeter eine beachtliche anthropologen-laufbahn umfasste, lehrtätigkeit u.a. in harvard, und ein wohl klassisches buch über jugendgangs in amerikanischen großstädten. wenn man ihn spielen hört, glaubt man kaum, dass er neben trompete üben noch zeit hatte, eine koryphäe zu werden. mit sun ra hat er angeblich schon in den 30ern gespielt.
die standard-einspielungen jedenfalls machen großen spaß, sind komplett uptempo, klingen auch in der itunes-remastered-version ziemlich toll. das spannendste aber ist wohl, wie sich sun ra selbst in diesem idiom bewegt, das ihm viel zu eng geworden scheint. auf einem stück wechselt lex humphries hinter die drums; und dann gibt es noch eine neue einspielung der sun-ra-komposition „state street“, die eher nach 30ern als nach 60ern klingt. den violinisten darauf hat man eine zeit lang sogar als stuff smith identifiziert (es ist aber michael white). da sind dann auch evans, allen und patrick wieder dabei.
völlig anders hört sich das arkestra auf WHEN SUN COMES OUT an. dominant ist vor allem die percussion (alle arkestramitglieder sind in der rhythm section aktiv), während die bläser und der pianist freier spielen als jemals zuvor. auf „calling planet earth“ scheint pat patrick sein baritonsax fast sprengen zu wollen, gilmore beendet seine soli plötzlich mit doppeltönen, ra spielt rasend schnelle cluster, selbst walter miller befreit sein spiel von allen melodischen ketten, ohne weniger virtuos zu wirken. als wichtiger neuzugang kommt ein 17-jähriger meisterschüler von marshall allen, danny davis, als zweiter altsaxophonist dazu, der sich mit allen regelrechte battles liefert (live sollen sie sich dabei einen auch körperlichen pseudo-kampf geliefert haben). am anfang gibt es den mysteriösen sirenengesang einer dame namens theda barbara, als bonus ist ein 1993 aufgetauchtes stück in der itunes-remastered-version zu finden, auf dem gilmore über einem teppich aus diversen percussioninstrumenten (u.a. den kuhglocken der freundin von tommy hunter) spielt. auch reverbs gibt es diesmal und eine neue version von „we travel the spaceways“, in dem alles einen entschiedenen schritt dissonanter gesetzt ist. das arkestra besinnt und radikalisiert sich auf WHEN SUN COMES OUT. selbst die hardbop-nahen stücke wie das tolle „dancing shadows“ klingt, von clifford jarvis angefeuert, eher nach verwinkeltem miles-2nd-quintet als nach 1963. trotzdem taucht vieles arkestra-spezifische als echo auf – flötensoli über exotischer percussion, chorgesang, swing, grandioses showmanship der solisten.
auf WHEN ANGELS SPEAK OF LOVE (1963, veröffentlicht 1966) ist der absprung in die freie improvisation geschafft. auch wenn es noch einzelne komponierte themen gibt, liegt der fokus jetzt auf einem transgressiven powerplay, für das vor allem marshall allen und danny davis zuständig sind. auch gilmore geht sehr weit in die atonalität hinein, bleibt dabei aber strukturierter. walter miller hält ziemlich gut mit, sitzt auch sicher im material, wirkt aber farbloser als in festeren formen. einiges wirkt dann insgesamt auch eher fahrig, wenig auf den punkt – man weiß nicht genau, was die haltung dahinter ist: spielen sie sich aus der gravitation hinaus, ist es eher ein energetisches konzept oder ein aufgreifenden der immer spürbareren musikalischen entwicklungen um sie herum, am vorabend des new thing? auf zwei stücken setzt hunter wieder die reverb-effekte ein, diesmal flexibler, vor allem, wenn keine durchgehende percussion am werk ist. das zweite nimmt die gesamte b-seite ein, „next stop mars“, mit fast 18 minuten das bisher längste der ra-diskografie. ein space chant, dann spielen ra und boykins frei durch. etwas konfuse soli der bläser und von ra, gilmore ist der einzige, dem etwas interessantes einfällt. pat patrick ist nur auf dem titelstück (einer schönen rubato-„ballade“) zu hören, entweder hatte er andere jobs oder spielt nur percussion.
WHEN ANGELS wurde 1963 in einer stückzahl von 150 gepresst, auf denen das arkestra wahrscheinlich noch zu einem gutteil sitzen blieb. erst 2000 gab es die cd-wiederveröffentlichung von evidence.
COSMIC TONES FOR MENTAL THERAPY (veröffentlicht 1967) schließlich ist interessanter und auch geheimnisvoller. das arkestra bleibt im freien bereich, allerdings ist die percussion interessanter gestaltet und hunters reverb-einsatz ist auch viel origineller. manchmal schaltet er den effekt für die dauer eines solos einfach aus, grundsätzlich setzt er ihn auch bei gerade grooves ein, die dadurch sehr komplex und dreidimensional werden. marshall allen spielt eine etwas überirdische oboe, gilmore bassklarinette, außerdem sind noch bernard pettaway (bassposaune), robert cummings (bassklarinette) und james jacson (flöte) dabei – dafür fehlt ein trompeter.
ganz großartig sind drei stücke, auf denen ra hammond-orgel spielt, die nicht teil des inventars des choreographers workshop war. tommy hunter, damals drummer im orgeltrio von sarah mc lawler war, vermittelte einen probe- und aufnahmetag im tip top club in brooklyn. auf „adventure-equation“ hört man 2 mal ein telefon klingeln. das stück stampft paradenhaft voran, gilmore spielt ein wunderbar gesangliches bassklarinettensolo, das völlig tonal bleibt, hunters reverbs am anfang und ende verschieben den gerade rhythmus in den weltraum. noch toller „moon dance“, auf einem sexy bass-lick gegründet, mit ganz tollen fills von jarvis und einer spleenigen, tollen, aufgekratzten orgel von ra. diese verbindung von sophistication und freiem spiel war 1963 sicherlich sehr neu.
ein ziemlicher trip, den das arkestra auf seinen proberaum-aufnahmen da 1962 und 63 hinlegt, vom standard zum new thing zu proto-psychedelia. auftrittsmöglichkeiten gab es nach wie vor weniger: ein längeres engagement im playhouse (einem kleinen café im greenwich village, in dem pharoah sanders arbeitete) und 4 wochen im les deux megots. 1964 wurde es schließlich so schlimm, dass arkestramitglieder andere jobs annahmen, u.a. gilmore bei blakey.
hier die kernband im choreographers workshop: patrick, ra, allen, gilmore und boykins.
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