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vorgarten(…)
„cluster of galaxies“ ist das erste von mehreren stücken, in denen ra und hunter den zufällig entdeckten reverb-effekt ihres aufnahmegeräts einsetzen, mit denen ein artifizieller hall ein ebenso artifizielles echo auslöst. (ich habe nicht ganz verstanden, wie das funktioniert haben soll – hunter hat aufnahmen mit kopfhörer abgehört, eingang und ausgang verbunden und den entstehenden effekt mit dem lautstärkeregler gesteuert). das tolle natürlich, dass das nicht als filter über der gesamten aufnahme liegt, sondern punktuell, überraschend, musikalisch eingesetzt wird. (szwed spricht von „low budget musique concrete“.)
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(das ist die kurzversion)
Toll, wie lässig und experimentell Sun Ra mit Genre-Grenzen umgeht oder Genres sogar völlig ignoriert. Und schon damals das Interesse an elektronischer Klangverfremdung und studio wizardry. Zu der Zeit muss sich im Greenwich Village aber auch alles mit allem vermixt haben. Viele Jahre später ist Sun Ra ja sogar mit John Cage aufgetreten. Da kann man auch mal minutenlang Stille hören, bzw. das Knistern und das Rauschen des Vinyls. Andererseits hat sich Sun Ra mit solchen Experimenten wohl auch zwischen sämtliche Stühle gesetzt, was seinem Mainstream-Erfolg sicher kaum zuträglich war.
vorgarten1962 ist das jahr, in dem sich dem arkestra endlich auftrittsmöglichkeiten in new york erschließen. allerdings machen die klassischen jazz spots einen großen bogen um das gold und orange kostümierte arkestra – sie bleiben in der nachbarschaft des greenwich village. die kleinen cafés, in denen sie auftreten, sind heute mythische orte der 60er-jahre-alternativkultur: frühe folkkneipen, die hin und wieder von schrägen jazzmusikern besucht wurden, beatliteraten den vatermord rezitierten, und die später der kuschelige underground von warhol, morrisey, nico, velvet underground bis hin zu david lynch wurden: das cafe bizarre in der 3rd street, das cafe wha?, das les deux mégots in der 7th, schlielich ein kleiner laden in der legendären macdougal street, in dem ein junger mann namens farrell sanders kellnerte, den ra später in pharoah umtaufte. fast zwangsläufig begegnet ra dem avantgardefilm-guru jonas mekas, der dem arkestra ein konzert nach einer filmvorführung organisiert (vor dem hunter aber leider das drumkit gestohlen wird). zum ersten mal überhaupt tauchen sie damit in zeitungen auf – ernst genommen werden sie dort natürlich trotzdem nicht.
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doch das village war auch touristenfalle und zuflucht für bürgerkinder. hier sind 12 minuten über einen sonntag im village anfang der sechziger, in den letzten minuten kann man einen afroamerikanischen dichter im cafe bizarre vorlesen sehen:https://archive.org/details/Greenwic1960
und hier ein tolles foto des innenraums, in dem das arkestra als „the outerspace men“ für 2 dollar & hamburger pro musiker monatelang gastierten – unter falschen spinnweben und verrutschtem gothic:
Das sieht so aus / hört sich so an wie eine Mischung aus Montemartre, Schwabing und Kreuzberg in den 70ern/80ern und Prenzlauer Berg der frühen 90er. „Nichts wie hin!“, würde ich sagen.
Ob das wirklich immer so kuschelig war in Andy Warhols Factory? Das war sicher finanziell ganz gut ausgestattet und ein Spielplatz für gefallene Bürgerkinder, eine Zuflucht für Außenseiter, Exzentriker und Narzissten, die aber vermutlich auch nicht immer so gut mit sich selbst und anderen klar kamen und unter denen eine „rather high mortality rate“ (Lou Reed) herrschte. Warhol selbst wäre Ende der 60er fast Opfer eines dieser entgleisten Bürgerkinder geworden.
Aber wie auch bei Sun Ra gibt es bei Andy Warhol – und da noch viel ausgeprägter – das Spiel mit den verschiedenen Kunstformen: Malerei, Film, Musik, Leben, Kunst & Kommerz werden lustvoll miteinander vermixt. Und vielleicht sind die frühen VU gar nicht mal so weit vom frühen Arkestra entfernt.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)