Re: Sun Ra

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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vorgartenich weiß nicht, ich finde solche diskussionen nicht ganz auf der höhe ihres gegenstands. möchte man sich wirklich mit der programmatik von john coltrane und sun ra beschäftigen (das wäre viel arbeit und würde einiges an text- und musik-exegese verlangen)? wohl kaum einer hier. coltrane ernsthaftigkeit abzusprechen würde mir nie einfallen. aber auch „space is the place“ ist auf irgendeiner ebene ziemlich ernstgemeint. 1961 war ja auch das jahr, in dem zum ersten mal ein mensch die erde aus ziemlicher entfernung einmal umflogen hat. und als ausdruck einer persönlichen utopie oder eines in-den-vorliegenden-lebensrealitäten-nicht-leben-könnens sowieso (was ich immer den realitäten zum vorwurf machen würde, nicht demjenigen, der damit nicht klar kommt).

also soll musik, vor allem avantgardistische, spaß machen – aber wenn sie spaß macht, wie bei ra, darf man sie deswegen auch ein bisschen belächeln (nicht ernst nehmen)? kirk ein clown? (hatten wir doch gerade hier, oder?) ich habe eigentlich nur über die musik geredet, überlegt, dass sie spaß macht, aber eben auch sehr ernsthaft betrieben wird – und da glaube ich beim arkestra eher zaubersprüche als kalauer (oder „praktizierte lebensfreude“) zu hören.

Nö, das müssen wir hier nicht ausdiskutieren, auch wenn die Programmatik von Sun Ra für dessen Musik und das Verständnis davon sicher nicht unwesentlich ist. Bei Sun Ra ist ja nicht nur die Musik programmatisch, das von Herman Blount geschaffene alter ego Sun Ra selbst ist Programm.

Ich fühle mich missverstanden: Habe ich gesagt, dass Sun Ra ein Clown ist, der Kalauer reißt? Überhaupt nicht! Auch ich meine bei Sun Ra einen utopischen Gegenentwurf zur „vorliegenden lebensrealität“ zu hören. Und dieses Utopia ist ein Himmelreich der unbegrenzten Möglichkeiten und wo sich unendliche Weiten auftun. Da herrscht auch Experimentierfreude, Verspieltheit, Freude, da darf der Avantgardist auch mal in bunten Gewändern auftreten, im übertragenen Sinne „zauberei“ praktizieren und Spaß haben ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen und da darf sogar mal gelacht werden. Wenn ich’s mal ganz platt ausdrücken wollte: Da herrscht Freiheit! Ja, Space Is the Place ist „auf irgendeiner ebene ziemlich ernstgemeint“ und ernst zu nehmen, und es schwingt auch gleichzeitig darin mit, dass dieses gelobte Land in unendlicher Ferne, noch jenseits von somewhere over the rainbow liegt und nie erreicht werden kann. Auch nicht mit Rocket Number 9. Außer in der Musik. Vielleicht kann man sagen: Die Musik ist Sun Ras Utopia.

Es ist mir schon klar, was die Weltraumfahrt der 50er/60er Jahre für Phantasien ausgelöst hat (btw: R.I.P. Spock), aber dass die Menschheit durch diesen technischen Fortschritt willens und fähig wäre, eine ideale neue Welt im Weltall zu schaffen, war doch auch damals Science Fiction und Utopie, aber keine realistische Vorstellung. In den 50er/60er Jahren dürfte es ja langsam gedämmert haben, dass Projekte vom gelobten Land, ob es nun die USA oder die UdSSR oder Deutschland über Alles oder was auch immer ist, am Ende doch nicht das einlösen, was man sich davon versprach. Herman Blount muss das mit seinen Erfahrungen als Afro-Amerikaner ja nun mehr als deutlich wahrgenommen haben. Alles andere wäre naiv.

Übrigens habe ich auch keineswegs behauptet, dass man die Musik von Sun Ra oder Sun Ra selbst belächeln darf. Habe ich nicht! Es ärgert mich, dass mir da etwas in den Mund gelegt wird und mir eine Einstellung unterstellt wird, die ich nicht habe und auch nicht zum Ausdruck gebracht habe. Ich verstehe aber auch nicht, warum man etwas, das Freude und Heiterkeit ausstrahlt – meinetwegen auch Humor hat – nicht ernst nehmen sollte. Ich nehme Sun Ra durchaus ernst, gerade weil er eine freudige Utopie entwirft, wobei mir aber auch immer klar scheint, dass diese Utopie natürlich niemals dauerhaft – höchstens für die Dauer, die die Musik spielt und hoffentlich danach noch im Kopf – verwirklicht wird. Das halte ich, so paradox es klingt, sogar für sehr realistisch und daher für ernst zu nehmen!

vorgartenszwed erzählt, dass ra mal um 1961 einem schmächtigen schwarzen teeenager auf der straße begegnet ist, der sich ihm als „gott“ vorgestellte. ra darauf: „hallo gott, wie geht’s?“ und der junge: „ich mag dich, sun ra, niemand anderer würde mich ernst nehmen.“

Das halte ich übrigens für sehr geistreichen Humor!

Viel Text, ich weiß, aber ich finde das interessant. Jetzt wieder Musik!

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)