Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Sun Ra › Antwort auf: Sun Ra
das arkestra mit phil cohran
die aufnahmen für JAZZ IN SILHOUETTE waren gerade fertig, als das arkestra auseinander bricht. hobart dotson, der ihm eine neue stimme gab, verabschiedete sich noch vor der lp-veröffentlichung zwei monate später (mai 1959), james spaulding nahm andere jobs an und ging dann nach new york. dorthin zog es auch den zweiten bariton-mann charles davis, und die sängerin hattie randolph ging nach kanada. john gilmore blieb zwar noch im arkestra, hatte aber bald einen regelmäßigen gig in einem anderen club – wie auch die drummer robert barry und william cochran ständig anderweitig verpflichtet waren. das schlimmste für ra allerdings war, dass sich auch pat patrick auf raten nach new york verabschiedete (schließlich in der band von james moody). damit fehlte nicht nur eines der zentralen gründungmitglieder des arkestras, es fehlte auch eine wichtige zutat im arkestra-sound. neue trompeter standen zunächst auch nicht zur verfügung (hin und wieder lucious randolph und walter strickland), drummer ebenso wenig.
gerade, als das schicksal der band auf der kippe steht, bekommt sie einen neuzugang, der wie kein anderer sich für das arkestra empfiehlt: der junge, sehr ernsthaft mit mathematik, kosmologie und weltmusik beschäftigte kornettist phil cohran wird von john gilmore zu den proben mitgeschleppt und ehe er es sich versieht, probt er täglich 6 stunden, spielt danach 6 stunden live und bevor er zu sinnen kommt, sind 1 ½ jahre vergangen. begeistert hat er in the wire von einem schlüsselerlebnis erzählt:
„[The Arkestra] were playing in a place on the West Side called The Fifth Jack and everybody in the place was paralysed when we started playing „Angels And Demons At Play“,“ he continues. „It was a multi-faceted place that had a bar, a tavern, a restaurant, a barber shop and something else. Everybody emptied all the other businesses and came over to our place – they even left the cash registers and stuff. Because we had them all mesmerised in this one corner of the building. I looked around and it was the first time I really realised how much power we had. Everybody in that place was holding their breath. It was proof that music had that power over people whether they’re conscious or not. It gets inside of your body, inside your body rhythms, it mixes with your chemistry. Ever since then, I’ve lectured on those subjects. I’ve expanded on that for 40 years. That’s what I deal with: music’s effect on the body, and the ancient tuning systems and how ancient people were aware of these properties. They didn’t have the analytical terms for it, but they knew it existed and they knew how to reach it. So with those forms of teaching, that was how we fit this concept, the modal concept really, of playing. I don’t want to go into it really, but you know a lot of people got that concept from me, but they don’t acknowledge it. I could name a lot of very well known people who came to me. Just like with Sun Ra, no one acknowledges anything. I’m not a crybaby or anything like that, but if people want to know the truth about how certain areas develop in an artform, then they would have to search for what happened here in the 60s. It had everything to do with the way it’s being played today.“
von hier.
gypsy hat in diesem thread mal einen überblick über die post-arkestra-karriere von cohran unternommen (die ja immer noch andauert) und auf die absolute einzigartigkeit dieses musikers hingewiesen, der so besessen von seinen eigenen konzepten war, dass er in chicago blieb, als das arkestra weiterzog (de facto war er schon vorher draußen und george hudson wurde der letzte feste chicagoer arkestra-trompeter), und auch nicht lange in der AACM blieb, die er 1965 mitgründete. bekannt sind heute vor allem seine alben mit dem artistic heritage ensemble, dem tollen ON THE BEACH (1968) etwa, das ganz um das funk-potential seines frankiphones (eines elektrisch verstärkten daumenklaviers) herumgebaut ist.
im arkestra hört man ihn zum ersten mal auf einer art zither, eigentlich einer kombination aus violine und ukulele (violin uke), deren saiten sowohl gezupft wie gestrichen werden können. cohrans rhythmisch, aber ziemlich schräger gebrauch dominiert einen ersten space-chant-hit des arkestras, 1960 auf einer probe aufgenommen: „interplanetary music“ (landete später auf WE TRAVEL THE SPACEWAYS, 1967). gilmore, boykins und ra singen den „text“ sonor, zu abgehackten orgelakzenten, schlägen auf den holzblock und einem dazu gegenlaufenden swingbeat. gilmore schlägt dazu noch auf „cosmic bells“. mehr braucht es nicht zu einem hit.
(don’t believe the diskografischen angaben.)
cohrans wunderschöne kornettstimme hört man dann auf der ebenso peripher entstandenen aufnahme von TAPESTRY FROM AN ASTEROID, das ra für ihn schrieb. hier ist dann auch der neue drummer jon hardy dabei. verloren spielt cohran das melancholische thema, während allen, gilmore und der aushilfsbaritonist ronald wilson üppige bläserschluchzer dazusteuern. auch dieses stück landete später auf WE TRAVEL THE SPACEWAYS.
mit seiner rudimentären besetzung hatte alton abraham dem arkestra weitere jobs verschafft – zunächst in der travestie-show-lounge del morocco, später dann im gerade eröffneten „wonder inn“, das sogar anzeigen schaltete und offensichtlich sehr stolz auf seine besondere „recording band“ war, die mittlerweile in kostümen auftrat und gerne auch mal spielzeugroboter ins publikum laufen ließ.
das wonder-inn-engagement war eine der letzten stationen des arkestras in chicago. ra produzierte noch singles mit der vokalband the qualities (ziemlich hübsch, darunter ein weihnachts- und ein silverster-song…), zum schluss wieder mit dem wild man yochanan (dazu später). es gibt drei umwerfende live-aufnahmen von ra, mit gilmore, cohran, allenboykins und einem unbekannten drummer, die es auf die 14-cd-box von michael anderson geschafft haben (bass und klavier hört man kaum, dafür die umwerfenden bläser, die das haus quasi in seine einzelteile zerlegen).
schließlich geht das arkestra wieder ins studio, um an einem tag ca. 40 stücke aufzunehmen. es entstehen die alben FATE IN A PLEASANT MOOD und das standard-album HOLIDAY FOR SOUL DANCE, außerdem einzelne stücke, die später auf anderen alben landeten, u.a. das titelstück aus ANGELS AND DEMONS AT PLAY. all das gehört mit zum tollsten, was es vom arkestra gibt – und das, obwohl die band ziemlich dünn ist und tatsächlich pat patrick fehlt.
angetreten zum marathon am 14. juni 1960 waren:
sun ra (bells, perc, gong, space harp); phil cohran (violin-uke, cnt, perc, voc); nate pryor (tb, bells); john gilmore (ts,cl, perc, voc); marshall allen (as, fl, bells, voc); ronnie boykins (b, space gong, voc); jon hardy (d, perc, gong).
timpani und dergleichen, für den tiefen perkussionsound des frühen arkestras so wichtig, fehlen wieder oder werden durch gongs ersetzt. statt zwei baritonisten bedient niemand das tiefe saxregister. aber: trotz fehlendem pat patrick und auch mit (ständigem) aushilfsposaunisten nate pryor ist das jetzt keine band mehr aus klangkörper-funktionsträgern, sondern aus sehr unterschiedlichen individualisten, aus einzelnen stimmen, die in der musik von ra auch viel mehr raum erhalten als in den komplizierten arrangements von 1956 und 1958.
das gilt auch für ra selbst: in „space mates“ beispielsweise kommt man in den genuss von rhytmisch effektiven monkischen kürzeln, spätromantischen arpeggien mit großer geste und überleitungen, die nach wiener moderne klingen, bevor allens flöte melancholisch zart durch den weltraum fliegen darf und jon hardy ein äußerst abstraktes drumsolo beisteuert. großartig ist ras klavier im schlafwandlerischen blues „space loneliness“, sowohl in der begleitung wie in seinem ideenreichen solo. tatsächlich überirdisch schön sind alle aufnahmen, in denen cohran den lead übernimmt, auf „lights on a satellite“ z.b., wo der weniger metallische kornett-sound tatsächlich von allem irdischen befreit scheint, gefolgt von boykins gestrichenem bass und eigenartigen harmonisierungen durch die anderen bläser (flöte und klarinette), die so für sich stehen, als würde cohran nur kurz an ihnen vorbeifliegen.
die üblichen exotika sind so stark integriert, dass sie zu etwas anderem werden (mit ausnahme vielleicht von boykins‘ „tiny pyramids“). irgendjemand hat mal geschrieben, dass das arkestra keine latin-rhythmen spiele, sondern sie für sich eigentlich neu erfinde. auch wenn es manchmal auf dasselbe hinauslaufen kann – man muss schon sehr viel abstrahieren und ignorieren, um die quellen der musik freizulegen. „somewhere in space“ hat zwar spanische anleihen, ist aber eher eine modale vorlage für gilmore und allen, wie sie gil evans für miles davis bereit gestellt hatte. auch die studioversion von „interplanetary music“ verbindet afrikanische rhythmen mit broadway, wobei der männerchor bei der zeile „interplanetary harmony“ besonders schief singt. bei „angels and demons at play“ schwebt die orientalisch inspirierte flöte auf einem hippen 3/4-vamp, den sun ra auf einer kleinen harfe rhythmisch imprägniert, das klingt wie eine african-heritage-ensemble-aufnahme 8 jahre später). tja, und welche quellen soll eigentlich „rocket number nine take off for the planet venus“ haben? das einzig vertraute darauf kann eigentlich 1960 nur das augenhöhe-coltrane-solo von gilmore gewesen sein, der rest ist dadaismus und ein bass-solo, von dem jimmy garrison damals nur träumen konnte. zoom, zoom, up in the air. all out for jupiter.
die standard-auswahl (viel später, 1970, auf HOLIDAY FOR SOUL DANCE veröffentlicht) steht der leidenschaft und originaliät der ra-originale keineswegs nach. eine band in großer spiellaune macht das schönste aus den klugen arrangements. ra trumpft plötzlich als pianist auf, meist setzen seine intros schon die latte, über die gilmore, cohran und vor allem der cry des hingebungsvollen marshall allen mühelos springen. hellwach druchkreuzt sich ganz altes mit neuem, nie wird der sound zu voll, alles ist luzide voneinander abgesetzt, ra punktiert die bläsersätze und alles schwebt mühelos und in 70mm über den virtuellen broadway.
sehr schön fügt sich eine kleine komposition von cohran darin ein („dorothy’s dance“); die arkestra-version von einem schlachtross wie „body & soul“ ist eine der schönsten, die ich kenne – mit wunderschönen, sich abwechselnden soli von gilmore und ra (der in einem tollen moment nur dissonante töne vom oberen ende der tastatur anschlägt und boykins tollen bass durchschimmern lässt).
demgegenüber fast altmodisch nehmen sich drei ra-originale aus, die so zwischen engeln, dämonen und raketen auch noch schnell eingespielt werden: auf „state street“ gibt es eine louis-armstrong-mimikry von phil cohran (zu handclaps der bandmitglieder), „the blue set“ ist ein blues wie aus den 30ern, auf den ausgerechnet marshall allen einsteigt, als hätte er schon 30 jahre showmanship auf dem buckel. und „big city blues“ shuffelt sich mit rimshots und call & response durch die tradition, bis man schließlich bei sun ras wirrem solo wieder weiß, wo man (nicht) ist. (diese stücke gab es nur auf single.)
in dieser letzten großanstrengung ist das arkestra jedenfalls tatsächlich nicht mehr an eine stadt und einen stil gebunden. ob nun montreal, new york oder philadelphia – es kann von jedem punkt der erde aus abheben.
zuletzt geändert von vorgarten--