Re: Scott Walker

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bullschuetz

Registriert seit: 16.12.2008

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wernerIch habe mir gerade die Doppel-CD „Classics und Collectibles“ von Scott zugelegt. Und ich muß sagen, daß ich selten einen schmalzigeren Krimskrams gehört habe. Nur seichtes Zeug (viel von Brel), die Stimme (ausgerechnet die!!!) nervt auf Dauer nur noch. Also ehrlich, ich schaffe die beiden CDs kein drittes Mal. Da muß ich ja zur Erbauung mal wieder „TILT“ anhören!

Kitsch/Schmalz ist für mich zum Klischee geronnenes Gefühl: Kitsch/Schmalz versucht, Emotionen wach zu rufen, indem er x-fach erprobte Versatzstücke nutzt, künstlerische (oder besser: kunsthandwerkliche) Techniken, die sich oft und oft bewährt haben, um so etwas wie Gefühlstiefe zu evozieren, nein, anzutäuschen mit letztlich billigen, abgegriffenen Tricks.

Scott Walker ist für mich das Gegenteil von Kitsch und Schmalz – und zwar von Anfang an: „The sun aint gonna shine anymore“ mag vorderhand von Liebeskummer handeln und von Herzschmerz – aber es klingt dabei so seltsam wissend, so irritierend erwachsen, als singe da nicht jemand, der heute meint, er werde nie wieder lieben können und sich übermorgen schon wieder frisch verliebt haben wird (wie es halt so ist in der Jugend). Sondern als singe da jemand, der weiss, dass manche Verluste unwiderruflich sind und Einsamkeit viel mehr sein kann als bloß das kleine Tief zwischen Liebesglück und neuem Liebesglück. Loneliness is a cloak you wear, A deep shade of blue is always there … Gab es jemals eine seltsamere „Teenie-Band“?

Und dann erst die ungeheuer reiche, strahlende und beklemmende Welt, die Scott Walker in seinen vier Meisterwerken Scott bis Scott 4 entworfen hat: zwischen Wohlklang und Welkheit, barocker Pracht und Finsternis. Und die Texte: meilenweit von „Herz reimt sich auf Schmerz“- oder „Moon reimt sich auf June“-Kitschlyrik. Ziemlich morbide bisweilen.
Höhepunkt ist für mich die Scott 4: Welch irritierende Schönheit in Songs über den Tod und den Stalinismus.

Es steht mir fern, Dir vorschreiben zu wollen, was Du kitschig/schmalzig zu finden hast und was nicht. Ich möchte Dich bloß ermuntern: Hör noch mal rein in Scott Walkers Frühwerk, versuch es chronologisch. Ich will Dich bestimmt nicht bevormunden. Aber ich will Dir ein Versprechen machen: Lass Dich darauf ein, versuche, noch mal mit einem Grundwohlwollen an die Sache ran zu gehen, nimm Dir die „Scott“-bis-„Scott 4“-Tetralogie vor – Du wirst es nicht bereuen. Ein Lied wie „Such a small love“ zum Beispiel (auf „Scott“) weist im Refrain auf die erhabene Strahlkraft von The sun aint gonna shine zurück – und mit seinem beklemmenden Geigenzittern am Anfang voraus in die Zukunft, zu den abstrakten, unsere Vorstellungen von einem Streicherarrangement verstörenden und erweiternden Tönen auf Tilt nd The Drift. Montague Terrace, Rosemary … viele dieser frühen Lieder sind momentweise wie Vorboten des späten Scott.

Das finde ich das Faszinierende an Scott Walker: Das ist keine hübsch modellierte Pop-Persona, die sich immer wieder „neu erfinden“ muss, damit sie nicht langweilig wird; das ist eine Künstlerpersönlichkeit, die immer radikaler zu sich selbst kommt. Da ist eine kühne, weit ausschwingende Entwicklungslinie in diesem Werk von „The sun aint gonna…“ bis zu „The Drift“ – und zugleich ist da eine Kontinuität, etwas Organisches, fast Logisches in diesem Weg. Eben kein Sich-neu-Erfinden, sondern ein Zu-sich-selbst-Finden. In The Drift klingt – bei aller Radikalität, bei aller Fremdheit – durchaus das Echo ganz früher Aufnahmen nach. Und durch manche ganz frühen Aufnahmen tönt wie eine Ahnung die Kühnheit von Tilt und The Drift. Ich finde Scotts Frühwerk grandios, die mittlere Phase (Nite Flights und Climate of Hunter) unglaublich aufregend und das Spätwerk phantastisch. Aber in diesem Falle, finde ich, führt kein Weg vorbei am allerbesten: am Gesamtwerk.

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