Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Von Abba bis ZZ Top › R.E.M. › Re: R.E.M.
Indirekter Spaß
In einer Kapelle in Athens schließen R.E.M. die Aufnahmen für ihr nächstes Album ab. Die Devise diesmal: mehr Gitarren!
R.E.M. – Gitarrist Peter Buck sitzt in einer Kapelle in Athens, Georgia, und betrachtet mit kindlichem Staunen das Equiptment – Schlagwerk, Verstärker, Mikrophone, edle Gitarren – auf der Bühne vor ihm. Die Band legt in dem zum Studio umfunktionierten Sakralbau letzte Hand an ihr neues Album, und Buck amüsiert sich prächtig: „Wenn du 15 wärst und den ganzen Tag mit diesem Kram rumspielen könntest, würdest du denken: ‚Mann, besser geht es überhaupt nicht.’ Und soll ich dir was sagen? Genau so ist es. Ich habe die anderen gerade daran erinnert. Schließlich soll das alles doch Spaß machen!“ Manchmal vergessen R.E.M. das, weil sie so beschäftigt damit sind, möglichst gute Alben abzuliefern. Nach dem Ausstieg von Schlagzeuger Bill Berry 1997 hatten Buck, Sänger Michael Stipe und Bassist Mike Mills „die schlechte Angewohnheit entwickelt, bei jedem Album Monate lang im Studio zu hocken. Wozu eigentlich? Ich finde, wir sind eine tolle Live-Band, also sollten wir eine tolle Live-im-Studio-Platte machen“. Und das haben sie getan – in nur neun Wochen, verteilt auf mehrere Sessions in Vancouver, Dublin und jetzt Athens. Das Album, produziert von Jackknife Lee hat noch keinen Titel und wird erst nächstes Jahr im Frühling veröffentlicht. Doch schon jetzt vergleicht Buck ihr neues Werk wegen der ungeschliffenen Energie und der Aktualität der Texte mit „Document“ von 1987, „bei dem wir alle Songs schrieben, uns als die Lyrics dazukamen, passten sie exakt zu dem, was die Musik ausdrückte“.
Wie das funktioniert, erklärt Michael Stipe, der unten im Regieraum sitzt und noch schnell ein paar Textzeilen überarbeitet, während aus den Lautsprechernvor ihm die neuen Songs dröhnen: „Horse To Water“ und „Accelerate“, beide sehr schnell und ruppig, das düster dramatische „Sing For The Submarine“, die nur scheinbar sonnig unbeschwerten „Disguise“ und „Hollow Man“. „Ich nehme mir das vor, was Peter und Mike liefern“, sagt er, „schließe die Augen, summe ein bischen mit, erspüre das Gefühl, das dahinter steckt, und richte mich danach“. So war das immer, und nach 27 Jahren funktioniert es, ohne dass man sich innerhalb der Band noch groß darüber unterhalten muss.
Nach der Wucht etlicher Songs zu urteilen, könnte Wut eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, doch das mag Stipe so nicht stehen lassen: „Wut ist ein ziemlich starkes Wort. Sicherlich steckt davon auch etwas drin. Aber es macht nicht die Essenz dieses Albums aus.“ Was es auf jeden Fall reflektiert, ist eine Verbundenheit und Harmonie, die R.E.M. nach dem Ausstieg von Bill Berry nicht immer kennzeichnete. „Man darf das nicht unterschätzen, wenn plötzlich ein Viertel der Band fehlt“, meint Mike Mills. „Auf einmal muss man sich das, was vorher von selbst kam, ganz neu erarbeiten.“ Und das kann schon ein paar Jahre dauern.
Bei diesem Album einigten Mills und Buck sich auf „schnellere, kürzere, gitarrenlastigere Stücke“, die zum Teil schon bei der Tour 2005 entstanden, als bei jedem Soundcheck neue Stücke ausprobiert wurden. Als man sich im Frühjahr 2007 zu ersten Aufnahmen in Vancouver traf, war die Band – mit Gitarrisr Scott McCaughey und Drummer Bill Rieflin, jetzt aber ohne Keyborder Ken Stringfellow – so gut eingespielt, dass sie nach 3 Wochen 8 neue Songs im Kasten hatten. Im Juli wurde das neue Material zusammen mit selten gespielten Oldies wie „Auctioneer“ in Dublin getestet, was Stipe wieder mit den Qualitäten seiner Frühwerke in Kontakt brachte: „Es muss sich nicht immer alles reimen. Indirekt geht es auch. Es muss nichts bedeuten. Wenn es ehrlich gemeint ist und gut klingt, dann reicht das. Dieses Album ist sehr melodisch.“
Für Mills ist es auch ein Album, das genau zur richtigen Zeit kommt. „Ich glaube, dass die Leute bereit sind, R.E.M. wieder zu mögen“, grinst er. „Irgendwie fühlt es sich an wie 1985 – als wären wir eine brandneue Band.“
David Fricke im dt. Rolling Stone 12 / 2007
--
Until you risk it you don't know what it is.