Re: Die letzte Dokumentation, die ich gesehen habe

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Whores‘ Glory
(Regie: Michael Glawogger – Österreich/Deutschland, 2011)

Junge, schöne Frauen, die sich im „Fish Tank“ in Bangkok hinter einer Scheibe zur Schau stellen, um dann ihren Freiern ein wenig Glück zu verkaufen. Frauen in Bangladesch, die in ihr Schicksal hineingeboren oder dorthin verkauft wurden: in ein Prostituierten-Ghetto, ein eigener Stadtteil. Sie werden nie eine Chance auf ein anderes Leben haben. Frauen in Mexiko, deren Endstation die „La Zona de la toleranzia” darstellt, ein Ort, an dem sie mit Drogen und Prostitution überleben – eng umschlungen mit Santa Muerta, dem heiligen Tod.
„Whores‘ Glory“ gibt jeder Frau ihren eigenen Raum, lässt sie ihre Geschichten erzählen: von Sehnsüchten, Hoffnungen, Begierden, von der Bitterkeit und gleichzeitig Schönheit der Realität – ihrer eigenen, aber auch der, für deren Erfüllung die Freier bezahlen.

Die schiere filmische Brillanz und die Wucht der Bilder haben mich schon bei Michael Glawoggers Meisterwerk „Workingman’s Death“ in ihren Bann gezogen. Zusammen mit Kameramann Wolfgang Thaler komponiert er in „Whores‘ Glory“ eine ungeschönte, aber kunstvolle Symphonie der Prostitution in Thailand, Bangladesh und Mexiko in drei Tableaus, die alle etwa den gleichen Raum einnehmen. Glawogger selbst nennt seinen Film ein „Triptychon“, also ein dreiteiliges Gemälde oder Kunstwerk, das im christlichen Kulturkreis auch oft in Kirchen zu finden ist und dort religiöse Inhalte zeigt. Dies schlägt sich in „Whores‘ Glory“ nieder, denn die jeweiligen Formen der Prostitution passen sich mehr oder weniger eindeutig immer der vorherrschenden Religion an, ähneln sich aber in eklatanter Weise, da die einbezogenen Glaubensrichtungen (Buddhismus, Islam, Katholizismus) streng patriarchalische Hierarchien vorgeben, die Frauen wenig Platz zum Leben und Atmen lassen.
Trotzdem wird die Prostitution verschieden organisiert und wahrgenommen. Während es für die Mädchen in Thailand eine vermeintliche Flucht, ein erhoffter Ausweg aus der beengten Situation der Familie ist, schafft man in Bangladesh Clan-ähnliche Strukturen, die eine Großfamilie imitieren. Dort ist der Lebensmittelpunkt der Arbeitsplatz, der zugleich auch als Wohnort und zur Freizeitgestaltung herhalten muss – die Enge ist nicht nur be-, sondern auch erdrückend.
Ähnlich mancher Situation in „Workingman’s Death“ destilliert Glawogger schaurige Horrorvisionen aus den Bildern des Alltags, ohne sie durch einen Kommentar aus dem Off zu verfremden oder durch gewollt finstere Musik zu forcieren. Stattdessen platziert er u.a. Stücke von PJ Harvey auf dem Soundtrack, die das Gesehene nicht nur untermalen, sondern auch für eine weitere Gliederung sorgen, indem sie den Input der Mono- und Dialoge begrenzen und Zeit zu einer ersten Verarbeitung geben.
Zuhälter, Freier und Prostituierte kommen zu Wort; der Hauptanteil liegt bei den Frauen. Sehr auffällig ist die Verdrehung der Täter-Opfer-Beziehung: Es sind ausschließlich Freier und ZuhälterInnen, die ihre Lage beklagen, auf erniedrigenste Weise um Preise fälschen oder in billigsten Euphemismen ihre Sucht nach der Prostitution ausdrücken.
Stehen die Mädchen der Etablissements meist im offensichtlichen Rampenlicht (hinter Glasscheiben, in gut beleuchteten Fenstern oder Eingangshallen), exponieren und entblößen sich ihre Kunden selbst, die oft ein faszinierend hässliches und abstoßendes Verhalten an den Tag legen. Keine Ausfälle, keine Beleidigungen oder Gewalttätigkeiten, einfach die ignorante Art, mit der Prostitution als ein verbrieftes Grundrecht angesehen wird, lässt so manch stolzen Mann zur Kröte mutieren. In Bangladesh behauptet ein Freier, dass die Frauen auf der Straße zerrissen würden, gäbe es das Hurenviertel nicht. Er verkennt dabei völlig, dass genau er es in der Hand hat (im wahrsten Sinne des Wortes sogar, wenn man an Selbstbefriedigung denkt), wie seine Handlungen – und damit die der anderen Freier – aussehen.
Die gesellschaftlichen Bedingungen, die z.B. den „Fish Tank“ in Thailand gebären (eine Art Aquarium, in dem sich die Frauen „tummeln“, also ihre Zeit totschlagen, bis sie anhand einer Nummer wie ein Gericht auf einer Speisekarte von einem Freier ausgewählt werden), blitzen oft auf, ihnen gilt jedoch nicht Glawoggers vornehmliches Interesse. Es ist immer die Not Geld zu verdienen und in einem kapitalistischen System als Ware verfügbar zu sein. Die Teilung der Welt macht sich hier bemerkbar: Während es in Bangladesh wie im Zeitalter der Feudalherren zugeht und das System fast zunftmäßig organisiert ist, erlebt man in Thailand eine individuellere Form, die als Sprung in ein bürgerliches Leben dienen soll, als Messer, das die Fesseln der Familie durchtrennt.
Dazwischen liegt Mexiko, wo die Huren weder in einem riesigen Elendsviertel ihrem Beruf nachgehen, noch Teil des großstädtischen Nachtlebens sind. Die Polizei hat sie außerhalb der Stadt in einer kleinen Pseudosiedlung zusammengepfercht und kontrolliert dort die Ein- und Ausgänge. Die vielen kleinen Hütten und die wenigen Bars erinnern an Westernstädte, selbst der Matsch entlang der Häuschen ist vorhanden – und wer nicht im Auto oder mit dem Fahrrad kommt, reitet auf einem Pferd in Richtung Saloon. Hier, wo eine eigentümliche Mischung aus Religion, Drogen, Sex und Verzweiflung herrscht, zeigt uns Glawogger die explizitesten Bilder, macht das schwierige Leben der Frauen am eindrucksvollsten sichtbar und entlässt den Zuschauer nach einem Blowjob, etwas halbherzigem Geficke und der traurigen Karikatur einer Zweckbeziehung in die Nacht.

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=IiqqWiGREhk

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