Re: Was liest der Forumianer im Moment?

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gypsy-tail-wind
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Mir fiel es wirklich wie Schuppen von den Augen … ist ja an sich nichts Neues, aber die Schilderung ist eindringlich und direkt, und man kann sich in etwa vorstellen (es gibt auch Schilderungen von der Elterngeneration, sowohl von Coates‘ eigener Erziehung – mit dem Gürtel des Vaters – wie auch Eindrücke aus früheren Erinnerungen der älteren Generation und deren eigener Jugend/Lebenswelt), wie das damals gewesen sein muss, als all die „grossen“ Jazzmusiker unterwegs waren und welcher kulturellen Prägung sie ausgesetzt waren. Man versteht dann auch wirklich jeden, der meint, Weisse könnten keinen Jazz … und man versteht möglicherweise sogar z.B. Stanley Crouch etwas besser. Allerdings heisst verstehen ja nicht, dass man einverstanden ist oder etwas rechtfertigt, das macht Coates selbst auch klar, so gesehen ist das Buch wirklich beeindruckend, denn es umgeht all die möglichen Fallstricke auf souveräne Weise, ohne von eigenen Schwächen und Fehlern abzulenken.

Als kleine Warnung: Coates ist erklärter Atheist und stellt sich damit auch ausserhalb eines Grossteils der „schwarzen“ Kultur der USA – er reflektiert das allerdings wiederum auf zumal für mich sehr nachvollziehbare Weise.

Aber ja, verdammt, jeder, der sich auch nur ein Körnchen für Popkultur interessiert (und ich denke, das ist jeder, der hier im Forum angemeldet ist oder auch zufällig draufstösst und still mitliest) sollte das Buch lesen. Kanonbildung ist ja nichts, was ich toll finde (es sei denn, der Kanon darf riesig sein, ausufern und wuchern und an allen Rändern amöbenartig ausfransen, sich überdehnen und alles was nicht kanonisch ist auch noch miteinbeziehen), aber das Buch ist wirklich ein Augenöffner und ein Schlüssel, der so manches, was man ahnte oder halbwegs schon wusste, erklärt und begreifbar – wenngleich, zum Glück, nicht erfahrbar – macht. Aber die Erfahrung, die der schwarze Körper in Amerika macht, wird vermittelt, und das auf äusserst eindringliche – und dennoch, es handelt sich ja um eine Art Brief an Coates‘ halbwüchsigen Sohn, auch auf liebenswürdige, sehr, man muss es so sagen, menschliche, Art (das ist, wie wenn James Brown im Interview sagt, er wolle keinen Respekt, er wolle nicht, dass jemand ihm irgendwas geben, es reiche, wenn einer die Tür aufmache, er hole es sich dann selbst, „I’m a man“).

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