Re: Was liest der Forumianer im Moment?

#445405  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,077

Na ja, einverstanden bin ich mit ihm am Ende nicht, wenn es um die Gesamtbewertung geht … aber er zeigt sehr detailliert auf, wie die Verfassung von Florenz funktionierte. Bin mir nicht mehr ganz sicher, es überlagert sich gerade alles ein wenig, aber was etwas zu kurz kommt ist die apologetische Dimension der ganzen ideologischen/rhetorischen Schriften der Humanisten – der Aspekt, dass ihre Texte *auch* als Rechtfertigung der neuen Ideologie, die der Herrschenden Schicht nützlich sein konnte. Diese wurde immer kleiner und musste sich immer deutlicher abgenzen – was durch die länger schon etablierten Patronage-Verhältnisse aber auch zunehmend über die Zurschaustellung von Magnifizenz erreicht werden sollte (die Stadtpaläste, die Grabmäler, Stifungen von Hospitälern etc.). In der älteren Vorstellung war die Zurschaustellung von Reichtum und Wohlstand verdächtig (schön zu sehen in Venedig: einheitliche Kleidung für die Oligarchie – doch im contado baute man sich wenig später die tollsten Villen). Mit dem, was Hans Baron den Bürgerhumanismus (später „civic humanism“) nannte, war eine Art Ideologie zur Stelle, die den Bruch mit der mittelalterlichen Wertewelt vollzog (was auch durch das nicht-teleologische Geschichtsbild möglich war und natürlich – das finden die Republikanismus-Leute dann das höchste der Gefühle – mit ideologischen Behauptungen wie einem neuen Gründungsmythos der Stadt untermauert wurde, die eben nicht auf Cäsar zurückgehe sondern von Soldaten Sullas, also noch von der römischen Republik gegründet wurde).

Anyway … das liegt nicht im Mittelpunkt von Meiers Aufsätzen, klar, aber im grösseren Rahmen gibt es heute ein paar Aufsätze, in denen die ganzen Zusammenhänge auf erhellende Weise dargelegt werden (natürlich ganz und gar nicht im eigentlichen Sinne Barons, dennoch retten sie gewissermassen das Konzept des „Bürgerhumanismus“, indem sie es anders kontextualisieren – was mir einleuchtet). Meier geht dabei nur so weit, den ideologischen Gehalt von Barons Denkmodell offenzulegen, den nächsten Dreh machen dann erst spätere Historiker (Mark Jurdjevic, Yoran Hanan – die Aufsätze gibt es bei JSTOR). Das ist wohl weniger ein Vorwurf an Meier, die Forschung ging halt einfach weiter. Es gibt dann auch noch einen ganz jungen Ansatz, der verkürzt gesagt aufzeigt, wie Florenz zunehmend in einer Art perpetuiertem Ausnahmezustand regiert wurde, wie die betreffende Sonderkomission (balìa) erst dauernd verlängert wurde (alle Ämter wurden im republikanischen Florenz nur für kurze Zeit – 2-6 Monate – besetzt und es gab anschliessend Sperrfristen, die auch für Väter/Söhne/Grossväter galten) und danach sogar institutionalisiert wurde.

In Venedig gab es die „Dieci“, die eine ähnliche Funktion einnahmen – die allerdings soweit man zu wissen scheint sehr viel stärker in die Exekutivbehörden eingebunden waren (indem Mitglieder der Signorie vertreten waren, indem bei jedem Beschluss mehrmals abgestimmt und bei jeder Abstimmung eine 4/5-Mehrheit verlangt war, bevor dann halt einer geköpft, gemeuchelt, vergiftet wurde). Machiavelli lobt die venezianische Verfassung gerade deshalb – weil in ihr ein Mittel angelegt sei, das erlaube, in Notsituationen effizient und rasch zu handeln. Wie er die betreffenden balìe in Florenz beurteilt, weiss ich nicht, aber Florenz war für ihn ja die von Faktionsstreitereien zerrissene Stadt, die ganz und gar nicht Vorbild sein konnte.

Zu Machiavelli las ich den kleinen Band von Kersting – da wird der „Bürgerhumanismus“ lustigerweise noch immer vorausgesetzt, ohne dass er allzu kritisch hinterfragt würde. Schade, in der Einbettung Machiavellis in die Florentiner Geschichte (und gerade auch in die Kontinuität, die ich im Hinblick auf die apologetische Dimension behaupten würde – also zwischen Salutati, Bruni etc. und Machiavelli) greift Kersting jedenfalls viel zu kurz (er betont zwar einigermassen, dass man Machiavelli nicht losgelöst von den Hintergründen sehen soll, aber kennt diese offensichtlich nicht ganz gut genug bzw. ist nicht auf dem aktuellen Stand der – historischen – Forschung).

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba