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observer

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Sufjan Stevens – Illinois (Come on feel the Illinoise)
(Asthmatic Kitty Rec. 2005)

Während meiner Uni-Zeit wurde uns immer die Methode des „mind-mappings“ ans Herz gelegt. Durch eine strukturierte Darstellung von Schlüsselbegriffen sollen in assoziativer Weise das Erinnerungsvermögen und der kreative Umgang mit einem Thema gefördert werden, da (so die These) die linke und rechte Gehirnhälfte gemeinsam genutzt werden. So stelle ich mir Sufjan Stevens vor, wir er anfangs vor einem Blatt Papier sitzt und in die Mitte dick umkreist den Namen „Illinois“ schreibt. Von da aus verzweigen sich dann all die Eindrücke und angelesenen Fakten zu historischen Ereignissen und Persönlichkeiten, die er im Zuge seiner Recherche zu diesem Bundesstaat in sich aufgesaugt hat. Der Rest scheint bei ihm ganz schnell zu gehen, denn insgesamt soll es nur fünf Monate gedauert haben, bis das Album, das mit dem Wort „komplex“ nur unzureichend beschrieben ist, im Kasten war.

Mit dem zweiten Teil seines „50 States“-Projektes macht er einfach alles richtig und bestätigt mal wieder meine Vermutung, dass Solokünstler oft die aufregenderen Platten veröffentlichen, da sie sich nicht dem Kompromißgesetz eines Bandgefüges unterordnen müssen. Größenwahn und Selbstzweifel sorgen dann schon für die richtige Balance beim Ergebnis. Und Sufjan Stevens macht fast alles allein. Er schreibt die Texte, komponiert und spielt zudem die meisten Instrumente selbst ein. Und das sind in diesem Fall nicht wenige. Schon oft habe ich mich ob seines Talents gefragt, wie er wohl aufgewachsen ist und seine Jugend verbracht hat. Ich stelle mir dann immer einen sehr introvertierten Menschen vor, der Stunden und Tage in seinem Zimmer verbringt und sich die Welt der Musik aneignet, dies aber in so unkonventioneller Weise macht, dass es ihn heute befähigt, solch außergewöhnliche Platten aufzunehmen. Die Einflüsse auf „Illinois“ reichen von Folk über Post-Rock hin zu den Minimalisten a la Philipp Glass und Steve Reich. Die stilistische Spannweite ist einfach zu groß, um sie auch nur annähernd beschreiben zu können. Die fast auf ein Piano reduzierte Eröffnung des Album, das triumphierend Orchestrale bei „Chicago“, die anrührenden Banjo-Balladen und die das Album prägenden Chor-Passagen sind nur einige Eckpunkte in diesem gigantischen Mosaik, dass am Ende den Eindruck eines geschlossenen Ganzen hinterläßt. Die Tracks sind ohne Pausen aneinandergereiht und sorgen so für einen Fluß, der den Hörer auf eine große Reise nimmt und nach 75 Minuten atemlos und mit herunterhängender Kinnlade, aber auch sehr erfüllt, zurückläßt.

Die musikalische Ebene ist es aber nicht allein, die das Album so herausragen läßt, obwohl Stevens auch da schon zu einer inhaltliche Deutung herausfordert. Nur ein Beispiel: im Instrumental „The Black Hawk War, or, How to demolish an entire civilization and still feel good about yourself in the morning …..“ kommt es zu einer Verschmelzung eines sehr sakral klingenden Chores mit Marschmusik. Der Titel impliziert natürlich einen Bezug zum Indianerkrieg von 1932, aber eine aktuellere Deutung zur Verbindung von Patriotismus und Religion liegt da nicht fern. Und mit der gleichen Mehrdeutigkeit operieren die Texte. Ein Blick in Internetforen, die sich mit der Interpretation seiner Lyrics befassen, offenbart, wie sich Muttersprachler und Ortskundige an seinen Texten abarbeiten. Dennoch sind sie nicht verklausuliert, sie beinhalten nur viele Metaphern und lassen Deutungsfreiräume. Was meint er z.B. in „Casimir Pulaski Day“ mit der Zeile „and the cardinal hits the window“, als seine Freundin an Krebs stirbt. Der Kardinal ist der Wappenvogel von Illinois und ein alter Aberglaube besagt, dass ein durchs Fenster hereinfliegender Vogel Unglück, wenn nicht sogar den Tod ins Haus bringt. Dazu natürlich noch die Doppeldeutigkeit des Wortes „cardinal“, nachdem er im Angesicht des Todes über den Sinn seines Glaubens nachdenkt. Mir scheint überhaupt, das ein wirkliches Durchdringen der Texte auch eine gewisse Bibelkenntnis voraussetzt. Sufjan Stevens ist gläubiger Christ, aber keiner, der an irgendeiner Stelle missioniert.
Ebenso wie die vielen christlichen Bezüge sind es natürlich auch die vielen historischen Verweise, die (uns Europäern) ein leichtes Verständnis seiner Texte nicht grade erleichtern. Aber dafür gibt es ja u.a. das Internet. Allein die Wikipedia-Einträge zu Illinois verweisen schon auf viele Schlüsselgestalten, die auf dem Album auftauchen. Ich kann nur jedem, der sich tiefergehender mit der Platte auseinandersetzen will, empfehlen, diesen Spuren zu folgen. „Illinois“ wird zu einem Geschenk ..ähm.. Gottes. Für mich ist es bislang das beste, weil berührendste und herausfordernste Album in diesem Jahrzehnt.

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Wake up! It`s t-shirt weather.