Re: Was liest der Forumianer im Moment?

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grandandt

Registriert seit: 10.10.2007

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linnIch mag die Menschen ja eher nicht so gerne, von wegen Krone der Schöpfung und so. Ich halte uns für ziemlich widerwärtige Tiere am Ende der Nahrungskette, die diesen Planeten systematisch zugrunde richten. Unsere sogenannten Errungenschaften, die Werke Michelangelos, Dürers, Heinz „Bembel“ Schenks, Mao Tse Tungs und Dieter Bohlens, die Astrophysik, Philosophie, die Wunder der Halbfettmargarineproduktion und fünfklingiger Nassrasierer dürften dem nichtmenschlichen Part unseres Lebensraums ziemlich fulminant am pelzigen oder schuppigen Arsch vorbei gehen, und ob dieser ganze Zauber uns Glattaffen wirklich vorangebracht haben, halte ich für zumindest fragwürdig. Ein Spinnennetz oder eine Wal-Arie sehen im Direktvergleich nicht wirklich schlecht aus – und dass mein Kater keinen Sprengstoffgürtel anlegt, um die Nachbarsmiezen wegen ihrer ureigenen Art der Alltagsgestaltung in die ewigen Jagdgründe zu pusten, macht ihn mir noch sympathischer.
Besonders evident wird die Blödsinnigkeit und Einförmigkeit des Menschengeschlechts bei so völlig debilen „Events“ wie den Weltkriegen, diesen aus niedersten Motiven vorsätzlich losgebrochenen und industriell organisierten Abschlachtungen unserer selbst. Das vorliegende Tagebuch Jüngers, dass selbiger eigentlich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hat, berichtet nun in Echtzeit aus den Granattrichtern, aus den Trenches, den Transportzügen und den Offizierskasinobesäufnissen von diesem Irrsinn und ist insofern der reine Stoff, aus dem Renns „Krieg“, „Im Westen nichts Neues“, der „Heeresbericht“ und die Stahlgewitter destilliert wurden. Vor allem dieser Echtzeitcharakter macht das Buch zu einer atemberaubenden Lektüre – auch wenn oder gerade weil die eigene Misanthropie danach neue Rekordwerte erreicht. Deswegen 5 Sterne – und ein Hoch auf meinen Kater.

Dann empfehle ich Dir auch Carl Zuckmayers Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir“.

wikipedia

Der Haupttitel, eine Zeile aus dem Gedicht Der gute Kamerad von Ludwig Uhland, ist auch der Titel des vierten Kapitels, das die Jahre 1914-1918 und die Teilnahme Zuckmayers als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg beschreibt.

Die Jahre 1934-1939, in denen Zuckmayer in Österreich eine Zuflucht vor den Nazis gefunden hatte, bis er mit dem Anschluss Österreichs erneut vor ihnen flüchten musste, beschreibt das zweite Kapitel „Austreibung“. Es enthält die folgende bewegende Passage über den Beginn der Naziherrschaft in Österreich am 12. März 1938:

An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen; die einen in Angst, die anderen in Lüge, die anderen in wildem, hasserfülltem Triumph. Ich hatte in meinem Leben einiges an menschlicher Entfesselung, Entsetzen oder Panik gesehen. Ich habe im Ersten Weltkrieg ein Dutzend Schlachten mitgemacht, das Trommelfeuer, den Gastod, die Sturmangriffe. Ich hatte die Unruhen der Nachkriegszeit miterlebt, die Niederschlagung von Aufständen, Straßenkämpfe, Saalschlachten. Ich war beim Münchener »Hitler-Putsch« von 1923 mitten unter den Leuten auf der Straße. Ich erlebte die erste Zeit der Naziherrschaft in Berlin. Nichts davon war mit den Tagen in Wien zu vergleichen. Was hier entfesselt wurde, hatte mit der »Machtergreifung« in Deutschland, die nach außen hin scheinbar legal vor sich ging und von einem Teil der Bevölkerung mit Befremden, mit Skepsis oder mit einem ahnungslosen, nationalen Idealismus aufgenommen wurde, nichts mehr zu tun. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt. […] Hier war nichts losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und ihr Haß richtete sich gegen alles durch die Natur oder Geist Veredelte. Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlicher Würde. (Seite 71 f.)

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Je suis Charlie Sometimes it is better to light a flamethrower than curse the darkness. T.P.