Re: Das Sterne-Bewertungssystem des RS

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This charming man

Registriert seit: 04.05.2003

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MuetiMeinst du? Vielleicht bin ich ja einfach oftmals nicht genug in die Tiefe gegangen, aber auch wenn du bestimmt nicht ganz Unrecht hast, sehe ich aktuell doch sehr unterschiedliche Ausprägungen der Übersättigung und würde da durchaus differenzieren; mit Abstand am stärksten sehe ich diese Entwicklung jedenfalls im Bereich der Pop- Rock- und der elektronischen Musik.

Das ist keine Frage von „Meinung“, Mueti. Wenn Du nur die Veröffentlichungspolitik der großen Labels über die letzten Jahrzehnte studierst, hast Du ja bereits belastbare Indiz-Beweise. Und da sind die tausende kleinerer Labels, deren Zahl sich seit den Mid-Seventies locker verhundertfacht hat, noch gar nicht drin. Eigentlich genügt es schon, wöchentlich „Billboard“ und „Music Week“ zu lesen, um den Moloch wachsen und aus den Fugen geraten zu sehen.

Wie Pete Townshend einmal sagte: als das Geld begriffen hatte, daß es sich im Musikmarkt schneller vermehren ließ als in anderen Anlagebereichen, ging es mit der Musik bergab (paraphrasiert). Vor allem, weil von da an (ca. 1968/70) musikfremde Geschäftsleute, Anwälte und Glücksritter die Schaltstellen zu übernehmen begannen, keineswegs nur im Pop-Bereich. Im Country-Sektor etwa setzte die reine Rendite-Orientierung zwar ein paar Jahre später ein, dafür umso mächtiger. Masse vor Klasse: man generierte Output nach dem Prinzip, daß immer etwas von der Scheiße an der Wand kleben bleibt, wenn man nur genug davon wirft.

Möglichst mit Wucht natürlich, was die Marketing-Abteilungen blähte, bevor sie die Veröffentlichungspolitik gleich mitzubestimmen begannen. Inzwischen sind A&R-Leute vielerorts nur noch geduldete Spinner, denen man allenfalls noch zuhört, wenn der Anpassungsdruck an einen neuen Trend groß genug ist, um mal schnell ein paar Klone unter Vertrag zu kriegen zwecks Partizipation. Am stärksten ist das übrigens in Amerika momentan in den Latino- und Christian Music-Märkten zu beobachten, für die auf Teufel komm raus überproduziert wird (Pop, Dance, Jazz, alles). Aber auch im UK sind die Dämme längst gebrochen. Beispiel: noch 1965 wurden dort wöchentlich ca. 80 Platten veröffentlicht (Singles, EPs, LPs), auf einer sehr überschaubaren Anzahl von Labels, zwanzig Jahre später waren es durchschnittlich mehr als 300, auf zahllosen Labels, und heute gibt es niemand mehr, der noch einen qualifizierten Überblick hat. Schon weil der Gesamtmarkt längst fragmentiert ist und jedes Fragment in den Genuss einer eigenen Überproduktion kommt.

Wobei sich eine Hermetik der Märkte herausgebildet hat, die an Autismus grenzt. Der Rockabilly-Markt etwa ist riesig, färbt aber nicht mehr auf das Hauptgeschäft bzw. die Charts ab. Dasselbe gilt für Reggae, Blues, Jazz, etc. Für all diese Segmente wird produziert, in der Addition müssen es etliche hundert Platten pro Woche sein. Und das meint ausschließlich physische Tonträger. Kurzum, Qualitätskontrolle findet kaum mehr statt, nirgendwo.

Wenn zurecht – Du kennst das Bonmot – beklagt wird, daß ein junger Bob Dylan bei Sony heute keinen Vertrag mehr bekäme, ist das ja nur die halbe Wahrheit. Weil er ja seine Platten problemlos auf einem der zahlreichen Indie-Labels veröffentlichen könnte. Das Problem der Wahrnehmung freilich wäre ein anderes, da Columbias Dylan damals nur mit den paar Liberty-, Capitol-, Elektra- oder Vanguard-Dylans konkurrieren mußte, heute wäre er einer von hundert oder tausend, was weiß ich.

Fazit: Im Laufe der letzten 40 Jahre ist der Faktor Quantität im Verhältnis zum Faktor Qualität exorbitant gestiegen. Logisch, denn es gibt ja heute nicht mehr große Künstler und großartige Musik als seinerzeit, nur das Gesamtangebot vergrößerte sich. Und hatte beispielsweise jede zweite 1965 im UK veröffentlichte Single beachtliche Meriten, während der Ausschuss bei allenfalls 20% lag (ich kann das ganz gut beurteilen, denn ich kenne fast alle damals veröffentlichten Singles), ist es heute eher umgekehrt: 80% Ausschuss, 20% mehr oder weniger hörenswert. Bevor nun ein Tropf kommt und „Geschmacksache!“ ruft: nein, diese meine Beobachtung deckt sich mit der vieler, „geschmacklich“ völlig anders orientierter Kenner der Materie (King, Boyd, Stein, Welch, Peel, Porter, Barnes, etc.). Soviel zu den „naheliegenden Gründen“.

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