Re: kramers 7" Faves

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Für diese Runde habe ich mich mit atom auf drei gemeinsame Favoriten geeinigt, die wir ohne Kenntnis der anderen Texte in unseren Threads zeitgleich eingestellt haben. So können jeweils unterschiedliche Sichtweisen auf gemeinsame Favoriten zu interessanten Einsichten führen. Mal sehen, ob wir dieses Experiment ein weiteres Mal wiederholen werden.

SIOUXSIE AND THE BANSHEES – „Hong Kong Garden / Voices“ (Polydor, 1978)

Siouxsie And The Banshees wurden 1976 für einen chaotischen Auftritt während des legendären Punk Festivals im Londoner 100 Club von Mitgliedern des sogenannten Bromley Contingents gegründet, einer Gruppe von Sex Pistols Fans aus der Umgebung von London. (Eine weitere aus diesem illustren Kreis hervorgegangene Band war übrigens Generation X). Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Sid Vicious, dessen späterer Werdegang wohlbekannt sein dürfte, Steve Severin und Marco Perrini, der später bei Adam & The Ants einstieg. Die Band löste sich nach dem Auftritt jedoch sofort wieder auf. Erst zwei Jahre später, nachdem die Zeit definitiv reif war und an den Fassaden einiger Londoner Plattenfirmen bereits Graffitis mit dem Slogan „Sign the Banhshees“ aufgetaucht waren, veröffentlichten Siouxsie & The Banshees, ohne Vicious und Perrini, dafür mit John McKay und Kenny Morris, bei Polydor ihre erste und beste 45.

„Hong Kong Garden“, übrigens laut Siouxsie inspiriert durch ein von ihr damals frequentiertes chinesisches Restaurant, ist kaum repräsentativ für die frühen Banshees und ihren zunächst schweren, atmosphärischen, urbanen Sound (zu hören auf dem Track „Voices“ auf der B-Seite dieser 45), denn „Hong Kong Garden“ kommt fast poppig, exotisch und euphorisch daher ohne jedoch den Verdacht zu erwecken, ein auf die Charts schielender Kompromiß zu sein. Grandios ist hier vor allem Siouxsies klarer, scharfer Gesang, der sie selbst bei ruhigeren Stücken so unverwechselbar macht. Die Band hatte übrigens seinerzeit aufgrund des Textes und der gedankenlose Provokation mit Hakenkreuz-Armbinden durch Siouxsie mit Rassismus-Vorwürfen zu kämpfen, die sie aber stets von sich wiesen. Ein kürzlich in „Mojo“ erschienenes Interview zeigt, dass das Swastika-Thema für Siouxsie auch heute noch ein unangenehmes Reizthema ist…

Fast alle frühen Siouxsie-Singles sind sehr gut bis hervorragend. An „Hong Kong Garden“ reicht jedoch keine andere heran.

MORRISSEY – „Suedehead / I Know Very Well How I Got My Name“ (His Masters Voice, 1988)

Es ist erstaunlich, wie schnell Morrissey nach dem dramatischen Ende der Smiths seine erste Solo-45 und im Anschluß daran sein erstes Solo-Album veröffentlichte. Erst recht wenn man bedenkt, wie verzweifelt er zunächst versuchte die Band auch ohne Johnny Marr zusammenzuhalten und sich an die verbleibenden Bandmitglieder klammerte, die er Jahre später, als Mike Joyce ihn vor den Kadi zerrte, als „austauschbar wie die Teile eines Rasenmähers bezeichnete“. Wer damals vermutete, dass Morrissey sich zukünftig in Selbstzweifeln, Leid und Hass suhlen würde, der wurde schnell eines besseren belehrt. Im Februar 1988 veröffentlichte Morrissey mit „Suedehead“ nicht nur eine seiner besten und kommerziell erfolgreichsten Singles, sondern schien auch selbstbewusst und zufrieden in die Zukunft zu blicken. Er hatte allen Grund dazu, denn „Suedehead“, ein Track, der trotz offensichtlicher Unterschiede (Vinnie Reilly statt Johnny Marr!) und einer viel glatteren, druckvolleren Produktion mit den Drums weit im Vordergrund dennoch eindeutig an vergangene, glorreiche Zeiten erinnerte ohne den schalen Beigeschmack einer schalen Smiths-Kopie. Auch wenn mir Musik-Videos in der Regel vollkommen gleichgültig sind, so ist das zu „Suedehead“ nicht weniger als großartig: Morrissey auf den Spuren seines Idols James Dean in Fairmount/Indiana. Herzzerreißend.

TRAVIS – „Re-Offender / Definition Of Wrong“ (Independiente, 2003)

„Re-Offender“ entstand zu einer für die Band offenbar schwierigen Zeit und das bekommt der unvorbereitete Hörer dieser Single auch deutlich zu spüren. Musikalisch und auch textlich (es geht um psychische und physische Gewalt in einer Beziehung) ist „Re-Offender“ meilenweit von frühen 45s wie „U16 Girls“, „Tied To The 90s“ oder „All I Want To Do Is Rock“ entfernt. Während ich mit dem Album „12 Memories“ zunächst meine Probleme hatte, hielt ich „Re-Offender“ vom ersten Moment an für eine großartige Single, die viel ernsthafter, erwachsener und düsterer klingt, als alle zuvor veröffentlichten 45s der Band. Eine faszinierende Entwicklung, die seinerzeit offensichtlich kaum gewürdigt wurde, denn der Band wurde vorgeworfen langweilig und gequält zu klingen und es gab sogar Reviews, in denen „Re-Offender“ als verzweifelter Versuch, mit Coldplay mitzuhalten bezeichnet wurde. Lächerlich.

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