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Ich habe mir erlaubt, die längeren Posts aus dem Hörthread hier zu duplizieren, damit man sie allenfalls auch mal wieder findet … und habe gestern nochmal ein Ohr voll vom Amsterdamer Konzert genommen und endlich die Liner Notes gelesen. Es war nun keinesfalls so, dass die Gruppe in Holland nicht ebenfalls äusserst konstrovers aufgenommen wurde, bloss war man nicht überall so leidenschaftlich darin, seinen Unmut zu äussern wie in Paris (wo es ja eh längst harte Kontroversen zwischen den Anhängern des traditionellen und des modernen Jazz gab – das ist insofern relevant, als dass Davis‘ Name eine so grosse Ausstrahlung hatte, als dass auch die Traditionalisten ins Konzert kamen – und für die war Coltrane natürlich irgendwas zwischen Daumenschrauben und Water Boarding). In Scheveningen wie auch Amsterdam ist gemäss den Liner Notes der Doppel-CD das halbe Publikum rausgelaufen. Die Notes stammen von Bert Vuijsje, der bei beiden Konzerten in Amsterdam dabei war, aber wie er schrieb die Birdland ’56 Tour und auch das Konzert mit Barney Wilen und dem Trio von René Urtreger 1957 verpasste, weil die Eltern ihn nicht hingehen liessen (Vuijsie wurde vier Tage nach dem Konzert 18 Jahre alt).
Vuijsje zitiert bzw. übersetzt aus einer damaligen Rezension aus dem Jazzmagazin „Rhythme“ (Mai 1960):
Following Dada standards, equipped with fool’s cap and little green trumpets, the limit of the acceptable was cheerfully crossed. […] What John Coltrane presented us with, was frankly scandalous and bore no relation whatsoever with playing the saxophone. Folks who dare call this the „music of tomorrow“ don’t have the slightest comprehension of music.
Gemäss Vuijsje war Michiel de Ruyter so ziemlich der einzige Kritiker, der sich seiner damaligen Reaktionen nicht zu schämen brauchte – Vuijsje schreibt auch, dass er selbst die Musik nicht begriffen habe, dass er dann aber bis im Herbst, als Miles mit Stitt wieder vorbei kam, eine Idee davon hatte, was Coltrane wollte (auch weil inzwischen „Kind of Blue“ erschienen war).
Also, etwas ausführlicher, (auch) den Liner Notes von Vuijsje folgend: März/April 1960. In Europa bekannt waren die Aufnahmen des Miles Davis Quintett für Prestige 1955/56, „Blue Train“, „Soultrane“. Aber weder „Giant Steps“ noch „Coltrane Jazz“ waren schon erschienen. „Milestones“ und „Porgy and Bess“ waren die jüngsten Miles-Alben auf dem Markt, „Kind of Blue“ sollte erst im Spätsommer 1960 folgen. Der modale Jazz war in seiner ganzen Breite also ebensowenig in Europa angekommen wie die neue Richtung, die Coltrane mit „Giant Steps“ einschlug.
Während am 21. März in Paris der Start der Tour war, stammt das Konzert aus dem Concertgebouw vom anderen Ende. Am selben Abend spielte die Band zuerst in Scheveningen („evening concert“, in Amsterdam dann „midnight concert“). Doch der Tag begann in Zürich – und zwar damit, dass die Band um 6 aufstand, den Flieger verpasste, drei Stunden zu spät in Amsterdam ankam, ins Kurhaus nach Scheveningen eilte … und dort ein grossartiges Konzert gab, in dem ganz besonders Coltrane glänzte – mit einem Solo in „So What“, das achteinhalb Minuten dauerte! In Amsterdam nun spielte Coltrane zurückhaltend, geradezu zögerlich – „So What“ dauert insgesamt nur zehn Minuten und das Solo Coltranes ist vorbei, bevor es richtig losgeht. Vuijsie mutmasst, dass er nach dem langen, anstrengenden Tag und dem ersten Konzert schlicht müde gewesen sein könnte – jedenfalls gab sich Miles hörbar mehr Mühe und spielt in Amsterdam, wie man ja dankenswerterweise auf der obigen Ausgabe seit 2013 hören kann (datiert ist sie zwar auf 2012, aber die Katalognummer ist „NJA 1301“, also die erste NJA-Veröffentlichung von 2013, das genaue Erscheinungsdatum kenne ich allerdings nicht).
Das Konzert aus Amsterdam ist also nochmal anders – die Band als ganze spielt nicht so entspannt auf wie in Zürich, aber Coltrane ist doch irgendwie etwas, wie soll ich sagen, gedämpft für seine Verhältnisse? Dafür hört man ziemlich viel Miles (was ja z.B. in Paris nicht wirklich der Fall war) – und man höre sein Solo in „All Blues“! (Das, so schreibt Vuijsje dann zum Konzert mit Stitt – das ja nach Erscheinen von „Kind of Blue“ stattfand – damals unter dem Titel „Flamenco Sketches“ lief.)
Der Mitschnitt mit Stitt ist zwar länger, aber auch hier hören wir „nur“ das „midnight concert“ zwei längere Trio-Stücke schliessen CD 1 ab („Whisper Not“ und „Ease It“), auf CD 2 gibt es dann 75 Minuten im Quintett bzw. Quartett (die Stitt-Features „Stardust“ und „Old Folks“, in denen er nicht – wie sonst den ganzen Abend – desinteressiert klingt).
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