Re: Miles Davis

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gypsy-tail-wind
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Wenn ich schon bei Miles & Gil bin, jetzt also auch noch der Wurmfortsatz … die 21 oder so Minuten, die auf „Quiet Nights“ landeten (das Album dauerte 27 Minuten und wurde durch ein Stück, „Summer Night“, ergänzt, das in der ersten Studio-Session nach der längeren Pause, 1963 eingespielt wurde).

Es schmerzt irgendwie, die brillanten Momente zu hören (etwa in „Song No. 1“), daneben die krassen Edits, die auch mal einen Beat unterschlagen, um einen Cross-Fade in eine Miles-Solo zu gestalten … Gil war schockiert, Miles angepisst, die Kritiker hassten die Scheibe, die erst Anfangs 1964 (noch nach dem ersten neuen Studio-Album von 1963) erschien – eine „halbe Platte“ in der Tat. Und dennoch gibt es in den gut zwanzig Minuten diverse wunderbare Momente und manche schönen Trompetensoli.

Als Bonusmaterial gibt es zuerst die drei Stücke von 1962, zwischen den Sessins mit Gil Evans aufgenommen mit einem Sextett, in dem Bob Dorough und Wayne Shorter mitwirkte. Die drei Stücke erschienen Compilations bzw. im Fall von „Nothing Like You“ ziemlich unpassenderweise fünf Jahre später auf „The Sorcerer“ (das dritte Studio-Album des ab 1965 endgültig zusammengekommenen „second quintet“ mit Wayne Shorter, dem gemeinsamen Nenner der Sessions). Dorough singt in seiner üblichen nonchalanten Art einen eigenen X-mas-Song, Shorter bläst ein tolles Solo (Miles hätte ihn ja schon 1961 gerne in der Band gehabt!), dann folgt „Nothing Like You“, das Dorough mit Fran Landesman geschrieben hat – ohne Piano, ein Sound, der für Miles ziemlich neu war. Der Höhepunkt ist dann die dritte Nummer, ohne Dorough, wieder ohne Piano, „Devil May Care“ (wohl Doroughs bekannteste Komposition), in dem Miles ein phantastisches Solo bläst.

Dann folgt die Theatermusik für „Time of the Barracudas“, die spät 1963 eingespielt wurde und erst in der Box von 1996 (LP bei Mosaic, CD by Sony/Legacy) veröffentlicht wurde. Viel gibt die knapp dreizehnminütige Suite nicht her, es gibt wenig Entwicklung, nur ein paar aneinandergehängte Motive (die teils wohlbekannt sind aus Evans‘ Werk). Aber die Rhythmusgruppe des neuen Miles Davis Quintetts, Herbie Hancock und besonders Ron Carter sowie Tony Williams sorgen dafür, dass es dennoch nie langweilig wird. Gemäss Bob Belden erstellte Columbia im Herbst 1968 ein Master Reel von diesen Aufnahmen (die in vielen Segmenten stattfanden und später zusammengesetzt wurden – „Miles Ahead“ war wohl eigentlich das erste Album, bei dem diese Technik schon ausgiebig genutzt wurde – noch vor Teo Macero), aber veröffentlicht wurde das Stück nie.

Die letzte Zusammenarbeit von Miles mit einem Orchester unter Leitung von Gil Evans (die beiden arbeiteten bis in die Achtziger zusammen, Evans war öfter dabei im Studio, wenn Miles mit seinen Combos aufnahm) fand etwas früher 1968 statt, vier Takes von „Falling Water“ wurden eingespielt (Macero erstellte einen „composite take“, aber Mosaic und Sony/Legacy veröffentlichten in der 1996er Box stattdessen die vier Takes). Die Band war elektrisch geworden, reflektierte die damaligen Interessen von Miles: drei Gitarren (der Veteran Lawrence Lucie an der Mandoline, Herb Bushler an der Hawaii-Gitarre und Joe Beck) und Herbie Hancock am wurlitzer, die Basslinie komponiert und von Bass, Tuba und Fagott gemeinsam gespielt, ein „Klangkissen“ („sound cushion“, Bob Belden), über dem Miles seine solistischen Linien bläst.

Den Schlusspunkt bildete dann ein Auftritt im Greek Theatre in Berkeley im April 1968 – Miles spielte mit einer von Gil Evans geleiteten Band ein kurzes Set, darunter ein Original (möglicherweise „Falling Water“), dazu Shorters „Antigua“ und Aretha Franklins Hit „You Make Me Feel Like a Natural Woman“ – leider sind davon trotz gegenteiliger Gerüchte bisher keine Aufnahmen aufgetaucht.

Der Sound von „Falling Water“ ist wohl eine Art Vorläufer von „In a Silent Way“, die ruhige Stimmung, die tollen Klänge, die sich aus der speziellen Instrumentierung ergeben – Gitarren-Temolos, ein leichter, treibender Beat von Tony Williams, Bass-Ostinati, die das ganze zusammenhalten, darüber Miles‘ weltverlorene Trompete … die Entwicklung der Musik, die Miles mit Gil Evans gemacht hat, zeichnet parallel zu den Combo-Alben die allgemeine Entwicklung von Miles nach – erste Soli über modale Strukture in „Miles Ahead“ etwa, das präsentieren von Musik in Suiten (das bei Miles live so ab 1968 die Regel wurde), das öffnen von Strukturen in der Folge von „Kind of Blue“, die Suche nach neuen Wegen mit den „second quintet“, die Erforschung elektrischer Klänge – all das findet sich auch in den Aufnahmen, die Miles Davis mit Gil Evans gemacht hat. Vor diesem Licht sind auch die wenigen Aufnahmen aus den Sechziger Jahren ziemlich interessant, und so schlecht, wie man oft glauben machen will, ist die Musik von „Quiet Nights“ auch nicht. Schade allerdings, dass Sony/Legacy für den CD-Remaster nur „The Time of the Barracudas“ angehängt hat – die Stücke mit Dorough sind damit immer noch im Limbus und „Falling Water“ gibt’s eben auch nur für jene, die ein Box-Set kaufen mögen…

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