Re: Miles Davis

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gypsy-tail-wind
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Ich hol mal ein paar Sachen aus dem Hör-Thread hier rüber und ergänze etwas … Anmerkungen zu den Aufnahmen von Miles Davis und Gil Evans, 1957-1960:

:: MILES AHEAD ::

„Miles Ahead“ also – seit gestern abend und mal wieder mit grösster Faszination. Inzwischen bin ich nach dem diversen Bonustracks jetzt bei den Rehearsals (und einigen weiteren kompletten Alternate Takes) auf CD5 und CD6 angekommen. (Auf CD1 der Box gibt es nach dem originalen Album nochmal das ganze Album, teils in Alternates, die für spätere Ausgaben, Maceros Stereo-Version von 1987, die 1993er CD verwendet wurden und von denen am Ende von CD4 weitere zu hören sind, einige Stücke in vollständigen Takes, die noch in der Probephase entstanden – Cal Lampley liess das Band schon laufen, in der Hoffnung, möglichst viel brauchbares Material zusammenzutragen).

Das ganze ist so unglaublich verworren, weil schon die Original-LP keinen einzigen kompletten Take enthielt … die Ausgaben von 1987 (Maceros Stereo-Version) und 1993 setzten sich teils wieder aus anderen Takes, Inserts und Overdubs zusammen. Die Box enthält einerseits also – erstmals auf CD, erstmals seit 1957 überhaupt – das Album, wie es ursprünglich (in Mono) veröffentlicht wurde und hängt dann alle Takes an, bei denen sich die später erstellten Stereo- (1987, es gab davon LP, CD und K7) und CD-Masters (1993) bedienten, ohne dass die jeweiligen Masters dieser Ausgaben zu hören wären. Zudem gibt es dann am Ende eben auch noch diverse kürzere und längere Rehearsals, sowie weitere komplette Takes (von denen wiederum Material auf den verschiedenen Masters gelandet ist) und die fast komplette Overdub-Session, in der Miles‘ neu eingespielte Parts im einen, im anderen das Orchester, wie er es hören konnte (die fertigen „Tracks“, mit einigen Löchern in den Solo-Parts, die es nun eben zu stopfen galt).

Faszinierend, all das zu hören, auch die kurzen Diskussionen zwischendurch … oder wie Gil Evans einen Drumpart für Art Taylor singen muss (weil dieser – entgegen den Beteuerungen von Miles im Vorfeld der Sessions – nicht oder nicht gut Notenlesen konnte). Und selbstverständlich sind auch manche dieser Rehearsals und Alternates zum Dahinschmelzen!

Zu den Albumcovern berichtete George Avakian, als 1996 die Box erschien:

The Miles Ahead Album Covers
There has been some debate over the change in album cover artwork for Miles Ahead. It has been reported that Miles vehemently objected to the original cover with the photograph of the white woman on a sailboat. Miles did ask me, „Why’d you put that white bitch on there,“ however, he spoke those words not in anger, but in a nonchalant manner. That was just Miles indulding what I cam to recognize as his shock-hyperbole style. His very next sentence delivered with a chuckle, was merely a quiet, „You should have used a black girl.“ We settled the matter intelligently, in about 30 seconds. Miles agreed that we should exhaust the supply of original covers so that tens-of-thousands of sales wouldn’t be lost while switching covers. We dcided that the best replacement cover would be a new photograph of Miles himself.
Those who didn’t know Miles Davis in the mid‘-50s may be surprised to discover that he was a pussy cat, even thouth he loved to push the „naughtiness“ envelope — always with a sly glance to check how well he was scoring. Of course he changed the glance to a glare after he developed his „bad boy“ reputation, but he never tried it on old friends.“

~ George Avakian

:: PORGY AND BESS ::

Das zweite Album produzierte Cal Lampley, der beim ersten als Assistent George Avakians dabei war. Er liess das Band nur in den Teilen der Studio-Sessions laufen, die den Aufnahmen gewidmet waren, es gibt da also wesentlich weniger erhaltenes Material als beim ersten Album, zudem hat Lampley oft direkt geschnitten, es blieben also verstümmelte Takes übrig, die in der Form keinen Sinn mehr ergeben – in der Box entsprechend nicht zu finden sind.
Zum Proben im Studio schreibt Bill Kirchner in seinem Essay im Booklet („An Overview (1947-1960“, in der Originalausgabe der Box auf S. 49):

The rehearsal takes are an interesting side issue. By agreement of the American Federation of Musicians with the major recording companies, there are no paid rehearsals for studio recording dates. This means that music must be both rehearsed and recorded at the actual sessions.

Trotz Lampleys anderer Vorgehensweise blieben einige komplette Alternate Takes und auch einige Rehearsal-Sequenzen bestehen, die in der Box nach dem Album auf CD2 und nach dem vielen „Miles Ahead“-Material auf CD6 zu hören ist.

:: ROBERT HERRIDGE THEATER (TV-Show, 2. April 1959) ::

Das las ich gerade auch wieder bei Kirchner: Cannonball ist da ja abwesend, fehlt also in der Combo-Version von „So What“ – altbekannt. Da ich die DVD damals aber nicht hatte, als ich die Box kaufte, nur etwas später eine Boris Rose LP mit dem Soundtrack, ohne Bilder, entging mir, dass Cannonball, der ja in Evans‘ Arrangements öfter einen Part hatte (gerade in „Porgy and Bess“, aber auch in Evans Pacific Jazz Alben war er prominent vertreten), natürlich auch in den Big Band-Titeln fehlte: anscheinend ist im Film zu sehen, wie Coltrane am Altsax einspringt und Adderleys Part übernimmt! (Muss ich erst noch schauen, hab die DVD schon länger nicht mehr im Player gehabt.)

:: SKETCHES OF SPAIN ::

Die 1997er Legacy-Aufnahme (die vermutlich noch immer geläufigste CD-Ausgabe) korrigiert nicht den Fehler, über den Gil Evans vermutlich so erzürnt war (Steve Lacy hatte sich erinnert, dass Evans über etwas Bestimmtes am fertigen Album sehr erbost war, konnte aber keine spezifischen Gründe nennen, so Phil Schaap in seinen Kommentaren zu den Bonus Tracks der 6CD-Box): Das Stück „Saeta“ wurde um ca. eine Minute gekürzt, indem zwei Passagen entfernt wurden, ebenfalls wurde irgendwas an der Reihenfolge herumgeschnippelt. Die Box, und auch die jüngste 2CD-Ausgabe von „Sketches of Spain“, korrigieren das, indem sie den kompletten Master nachreichen, die Legacy-CD unterliess das leider (enthielt aber den Outtake der Sessions „Song of Our Country“, sowie den Alternate Take des Adagios aus dem „Concierto de Aranjuez“).

Als Produzent waltete ein Neuling: Teo Macero. In der ersten Session (John Hammond stand ihm beiseite) erschien Miles mit grosser Verspätung und packte seine Trompete gar nicht erst aus. Stattdessen entstand eine faszinierende, etwas über sieben Minuten lange Probesequenz vom „Concierto“, in der wir mit Miles zusammen der Band zuhören. Eilig wurde eine weitere Session eingeschoben, Irving Townsend übernahm die Beraterfunktion. In der zusätzlichen Session entstand ein Alternate Take des „Concierto“, der zwölf Minuten dauerte – das Ende fehlt. Ein paar Tage später dann, in der zweiten regulären Session, wurde der Master Take und eine Alternate Take des Endes eingespielt. Erst vier Monate später, im März 1960, wurde dann der Rest des Albums aufgenommen.

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