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Für immer und ihn
Vor zehn Jahren starb Rio Reiser: eine Verbeugung
König von Deutschland wollt‘ er sein, sein Schatz wird nun nach und nach gefleddert: Selig-Sänger »Jan Plewka singt Rio Reiser«, der HipHopper »Clueso singt Rio Reiser«. So steht es auf den CD- und DVD-Hüllen geschrieben, wohlgemerkt: Sie singen den König – nicht dessen Lieder. Allein das reicht für eine Anklage wegen Hochverrat. Denn nur Rio Reiser sang wie Rio Reiser – da mögen Plewka und Clueso noch so düster und kampfeslustig schauen: Das ist nur Oberfläche, im Herzen ist Rio Reiser unerreicht.
Als Rio Reiser am 20. August 1996 starb, war zumindest für einen, der sein Leben eher sittsam lebt, die interessanteste Tatsache, dass man mit 46 Jahren mit Herz-Kreislauf-Versagen enden kann. Aber, so makaber das klingen mag, Rio Reiser ist damit unsterblich geworden: »Die Besten sterben jung« und »Live fast, die young« sind schließlich die Schlachtrufe der Rock-Generation.
Und: Reiser wurde erst durch seinen Tod zur Entdeckung für eine ganze Gesellschaft. Denn, seien wir ehrlich, wer hatte sich bis dahin schon groß für den Mann interessiert? Die Grünen, die sein Lied »Alles Lüge« 1986 als Wahlkampfsong benutzten, und die paar aus der überschaubar großen bundesdeutschen Hippie-Kommune, die im Takt von Ton Steine Scherben permanent »Keine Macht für niemand« forderten. Plötzlich aber war das alles anders: Auf einmal kannte jeder zumindest den Titel des mitgröhlbaren Lieds »Wenn ich König von Deutschland wär’« und fand »Macht kaputt, was euch kaputt macht« einer als Individualismus falsch verstandenen Ellbogenmentalität, die die Gesellschaft der späten 90er ergriff.
Dass Rio Reiser ein öffentlich zugängliches Kunstgebilde war, hinter dem ein offensichtlich sensibler Mensch sich verborgen hatte, blieb uninteressant: Dabei hätte nur ein Blick in die Literatur der Dichter und Denker gereicht, um die von dem Frühromantiker Karl Philipp Moritz (1756 bis 1793) geschaffene Romanfigur Anton Reiser als Maske für den einstigen Trebegänger Ralph Möbius, wie Rio Reiser mit bürgerlichem Namen hieß, zu entdecken. »Verlassen von allem, fühlte er erst eine Art von bitterer Verachtung gegen sich selbst, die sich aber plötzlich in eine unaussprechliche Wehmut verwandelte … Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel stärker musste er das wirkliche empfinden«, Moritz‘ gescheiterter Schauspieler in der Derbheit des 17. Jahrhunderts – und so sah sich denn der in seiner Jugend der Beatles und Rolling Stones wegen aus Nieder-Roden im Rodgau nach Liverpool ausgebüxte Möbius, bevor er 1970 mit Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel den Protest seiner Generation in der Rock-Band Ton Steine Scherben wortgewaltig laut machte . . .
. . . und so offenkundig, dass die Wehmut in Rio Reiser gerne ausgeblendet wird, obwohl gerade sie am augenfälligsten in den klischeehaft typischen Fotodokumenten seines Lebens ist: wenn er, der ausgemergelte Rock-Sänger, wie im Rausch und vollkommen weltentrückt wirkt. Kurz vor seinem Tod sagte er in einem Interview: »Ich singe düstere Inhalte ja mit einem Lächeln. Es gibt ja – wenn auch nur in geringem Maße – den Ausblick auf ein Happy End.« Und doch kommen wir dieser unerwarteten Fühlbarkeit von Rio Reisers Sehnsucht nach Harmonie weniger aus denn je. Marianne Rosenberg, mit der ihn ab den 80er Jahren eine musikalische Freundschaft verband, hat eines seiner anrührendsten Lieder erhalten – ein Lied, das wie wenige andere den Unterschied zwischen »allein« und »einsam« erzählt: »Für immer und Dich«. Und nie für eine Kopie.
Stefan Reis
aus dem boten vom untermain
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formerly known as "dengel"