Re: Rio Reiser

#345231  | PERMALINK

dock

Registriert seit: 09.07.2002

Beiträge: 4,485

..und nicht jede Äußerung auf die Goldwaage legen…..

Um noch ein letztes mal auf die Diskussion zurückzukommen, ich glaube es spielt auch ne Rolle in was für einer Subkultur man sich bewegt. Ich kenne jedenfalls viele „Jüngere“ Leute denen die Scherben viel bedeuten dagegen kaum jemand der selbiges von Tocotronic behaupten würde.
(hämisch grinsend geschrieben)

Und das alle Scherben Songs zeitbezogen bzw. die Scherben eine ein Generationen Band waren ist quatsch. Das mag vielleicht auf nen paar Songs zutreffen, andere besitzen dagegen eine zeitlose Gültigkeit die auch noch in 50 Jahren bestand haben wird und die zumindest meiner Meinung nach im deutschsprachigen Raum ihresgleichen suchen….als Bsp. seien Traum ist aus, Halt dich an deiner Liebe fest, Hau ab und Übers Meer genannt.

Jeder der den Kinofilm „Der Traum ist aus – die Erben der Scherben“ gesehen hat weiß zudem das kein geringerer als Jan Müller die Scherben verehrt womit sich der Kreis endgültig geschlosen hätte… :lol: :lol:

Zur Bedeutung der Scherben und insbesondere der von R. Reiser stehl ich nochmal den gelungenen Nachruf des dt. Rolling Stone rein…

Rolling Stone: 10-1996

D e r T r a u m i s t a u s
Mit Rio Reiser ging auch die Illusion von der subversiven Kraft der Musik

Als seine Freunde am 1. September Abschied nahmen, wurde auch ein Kapitel deutscher Musikgeschichte zu Grabe getragen. Zerrissen zwischen revolutionärem Anspruch und den kommerziellen Realitäten, verkörpert Rio selbst in seinem Scheitern ein deutsches Schicksal.

In der Nacht, bevor Rio Reiser starb, spielte sein Freund Lanrue Billard. Die beiden hatten sich vor 30 Jahren im hessischen Rodgau kennengelernt, 1970 in Berlin die legendäre Agitrock-Band „Ton Steine Scherben“ gegründet und waren Mitte der 70er Jahre mit ihrer Kommune ins nordfriesische Fresenhagen übergesiedelt. Die Freundschaft der „deutschen Glimmer Twins“, wie sie wegen ihrer Parallelen zu Jagger und Richards genannt wurden, überdauerte die Auflösung der Band 1985 ebenso wie Rios Solo-Karriere als „König von Deutschland“. Nach zehn Jahren, in denen Reiser beim Musik-Multi CBS/Sony unter Vertrag stand, sollte sein nächstes Album wieder beim Scherben-Label „David Volksmund Produktion“ erscheinen, das Lanrue über all die Jahre am Leben erhalten hatte.

Während der König im Vorderhaus ihres Bauernhofes in seinem schwedischen Bett lag, ein letztes Mal vom Paradies träumte und es draußen schon wieder dämmerte, legte Lanrue im Hinterhaus eine Platte auf, die er „nur alle zehn Jahre mal“ hört: Mozarts Requiem, das der kurz vor seinem Tod komponiert – und dessen Uraufführung er nicht mehr erlebt hatte. Wenige Stunden später starb Ralph Möbius alis Rio Reiser nach einem Herz-Kreislaufkollaps in Verbindung mit inneren Blutungen.

Mit ihm verstummte ein musikalischer Rädelsführer der radikalen Linken, dessen Songs 25 Jahre lang als Soundtrack bei Hausbesetzunen dienten, und vor dem – Jahre vor seinem Tod – so ziemlich allle Kollegen, von Lindenberg bis bis Grönemeyer, den Hut gezogen haben. Seine Lieder wurden von Punk-Bands ebenso gecovert wie Marianne Rosenbergs, der Frauengruppe „Die Braut haut aufs Auge“ oder den Einstürzenden Neubauten.

Niemand brachte mit seinen Texten die Kritik an dieser Gsellschaft so auf den Punkt wie Reiser, der seinen Künstlernamen Kael Philipp Moritz´Roman „Anton Reiser“ entlehnt und 1967 die vermutlich erste Beat-Oper der Welt komponiert hatte. Keiner sang mit soviel Überzeugung und so vehement gegen die herrschenden Verhältnisse an wie er. All die unglücklichen Lieben, all der Zorn, die Wut ud der Haß auf den Staat – Rio sang so intensiv, daß es einen jeden berührte. Seine Songs waren echt und wahr, weil er durch alle Höllen gegangen war, die er darin beschrieb. Seine Gefühle warten radikal und athentisch, nicht im Studio nachempfunden. Bevor es ihn im Fresenhagener Heimstudio dahinraffte, war er bereits tausend Tode gestorben.

Gleich die erste Single, die „Ton Steine Scherben“ 1970 in einem Kreuzberger Hinterhof-Studio aufnahmen, war zur vielskandierten Hymne der Studentenbewegung geworden: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Im September desselben Jahres trat die Band, die sich nach einem Zitat des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann benannt hatte („Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben“), auch erstmals live auf.

Als sie an jenem 3. September die Bühne des (von Beate Uhse gesponserten!) „Festival der Liebe“ betrat, kursierten im Piblikum bereits Gerüchte, daß viele der angekündigten Bands nicht auftreten würden. Die Stimmung war hochexplosiv, und es bedurfte urmehr eines Funkens, um alles in Brand zu setzen. Rio Reiser ließ sich nicht lumpen: „Hauen wir den Veranstaleter ungespitzt in den Boden!“ Kurz darauf ging die Bühne in Flammen auf.

Ein Jahr später erschien das erste Album, das von der Gruppe selbst produziert und auf ihrem eigenen Label veröffentlicht wurde: „Warum Geht Es Mir So Dreckig“. Die Platte drückte das Lebensgefühl einer aufbegehrenden Jugend aus, und Reiser verkündete darauf programmatisch: „Ich will nicht werden, was mein Alter ist.“

Nach einem Konzert in Berlin wurde das leerstehende Kreuzberger Bethanien Krankenhaus besetzt. Die Scherben komponierten daraufhin den „Rauch-Haus-Song“, und im Anschluß an ihre Konzerte kam es immer häufiger zu Hausbesetzungen, überall in der Bundesrepublik, so daß sie sich schon bald wie eine politische Misicbox vorkamen. Ihre Song mutierten zu Parolen der Jugenbewegung und wurden auf Demos lautstark gegrölt. Lange bevor es hierzulande selbstverständlich wurde, sang Rio in der eigenen, der deutschen Sprache – und die war explizit genug, um den Status der Gruppe als linksradikale und subversive Rock´n´Roll-Band zu manifestieren.

Das hatten nicht nur die Bullen erkannt, die widerholt mit gezückten MPs die Scherben-Kommune am Tempelhofer Ufer Durchsuchten. Ähnlich dem unbekannten Auftraggeber für Mozart Requiem tauchte eines Abends auch eine steckbrieflich gesuchte Terroristin in Rios WG-Zimmer auf, der von ihm so genannten „Tutti-Frutti-Republik“ und bestellte, konspirativ flüsternd, eine Hymne auf den bewaffneten Kampf, die das Volk zum Sturm auf die Paläste aufrütteln sollte.

Reiser erinnerte sich an die Parole, die er in der Anarcho-Kiffer-Zeitung „Germania“ gelesen hatte, und schrieb daraufhin „Keine Macht für Niemand“. Die höchste Kommando-Ebene der Roten Armee Fraktion (RAF) lehnte das Werk allerdings als „Blödsinn, irrelevant und für den anti-imperialistischen Kampf unbrauchbar.“ ab. Im westdeutschen Polit-Underground und in Kreisen der DDR-Opposition wurde der Song dennoch ein Hit.

Die Zeiten hatten sich inzwische geändert. Aus Kämpfern waren Kader geworden, und in den Augen dogmatischer Sektierer galten die Scherben spätestens dann als plotisch unzuverlässig, als sie auf einem Solidaritätskonzert für ein besetztes Haus die revolutionären Massen mit Glitter bewarfen. Auf 1.Mai-Demos durften sie danach nie mehr auftreten.

Mitte der 70er Jahre hatten sie genug von den Rollenspielen der Großstadt und zogen samt Anhang aufs Land, nach Fresenhagen. Das nach einem Ho-Tschi-Minh-Zitat betitelte Doppelalbum „Wenn Die Nacht Am Tiefsten“ wurde denn auch als Rückzug in die innere Emigration interpretiert, obwohl es größenteils noch in Berlin entstanden war. Zweimal ging die Band noch auf Tournee, dann zog sie sich, total frustriert und nicht mehr bereit, sich länger politisch instrumentisieren zu lassen,ins Studio zurück.

Die Scherben produzierten vielbeachtete Kinderplatten, und Rio Reiser komponierte Film- und Theatermusiken, unter anderem für das Schwulen-Kabarett „Brühwarm“. Der Kontakt zu der Hamburger Gruppe um den späteren „Schmidt-Show“-Moderator Corny Littmann gab ihm den Mut, sich 1976 als Schwuler zu outen.

Es daurte sechs Jahre, bis die Scherben erneut ihre Vorliebe für biblische Themen, Karl May und Karl Marx in Vinyl preßten. Ihre ertse Tournee nach langer Abstinenz endete trotz voller Häuser im finanziellen Fiasko, weckte aber Interesse des Konzertveranstalters Fritz Rau. Der schickte „des Herrgotts Lieblingsband“ erneut auf Tournee und verschaffte ihr einen Auftritt im „Rockpalast“. Der Verkauf ihres schlicht „Scherben“ betitelten Albums, das sie inzwischen als zeitgemäße Popgruppe auswies, hielt sich trotzdem in Grenzen.

Im Lauf des Jahre hatten sie mehr als 300000 LPs unter die Leute gebracht, doch durch den Ausverkauf der Neuen Deutschen Welle war die finanzielle Situation der Independents aber immer prekärer geworden – in Fresenhagen hatten sich Schulden in Höhe von einer halben Millionen Mark angehäuft. Auf eigenr Faust produzierten sie noch ein Live-Album, dann wollten sie zur major company WEA wechseln.

Der unterschriebene Vertrag landete im Papierkorb: „In einer mystischen Stunde“ löste sich die Band 1985 auf. Der Name „Ton Steine Scherben“, der seit 15 Jahren eng mit einer unabhängigen Produktion von Musik verbunden wurde, sollte nicht durch das Überwechseln ins gegenerische Lager beeinträchtigt werden.

Was ihm mit den Scherben nicht gelungen war – nämlich im Jugend- und Pop-Markt Fuß zu fassen -, schaffte Reiser 1986 mit dem Gassenhauer „König von Deutschland“ einem alten Scherben-Song, den auf ser ´76 Tournee noch Nikel Pallat gesungen hatte. „Emma“-Leserinnen wählten ihn daraufhin prompt zum „Newcomer des Jahres“.

Der Pakt „mit dem Teufel“, der ungeliebten Plattenindustrie, hatte nur einen

--