Re: Bob Dylan

#302389  | PERMALINK

friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

Beiträge: 5,160

B.B. GruntAlso was ich hier lese, hat wenig mit „dissen“ zu tun. Ich lese hauptsächlich über Songs und Stimmen. Was seine Songs betrifft, ist Dylan von diesen absolut überzeugt – egal ob ihm einzelne (Cover-) Versionen zusagen oder nicht. Für ihn sind die Songs allerdings keine Geniestreiche (die man yesterday über Nacht träumt) sondern das logische Resultat der Beschäftigung mit anderen Songs: Zutaten und Mischung sind wichtig, weniger wer zufällig den Mörser reibt. Dazu lese ich eine gewissen Verletztheit, was den Umgang der Kritik mit der eigenen Performance und Intonation dieser Songs angeht – und das ist, ehrlich gesagt, das Letzte was ich von Dylan erwartet habe, dass ihn so etwas kümmert oder beschäftigt. All das illustriert er mit Beispielen aus der populären Musik der letzten 70 Jahre, bei denen viel Dankbarkeit gegenüber Vorgängern und Zeitgenossen, die ihn unterstützt haben, mitschwingt. „Dissen“ seh ich hier wirklich keines. Das er einen anderen Songrwriting Zugang hat als Leiber / Stoller ist klar – die Verbeugung gegenüber Doc Pomus finde ich interessant. Und dass das Atlantic Label gute Sachen hervorgebracht hat, wird von ihm ja ausdrücklich erwähnt, dass er Sun näher steht ist auch keine Überraschung. Wirklich kritisch äußert er sich nur über die Vokalakrobatik bei der Amerikanischen Hymne bei einem Boxkampf (ohne einen Namen zu nennen), nicht ganz zufällig im Zusammenhang mir dem Vorwurf, er zersinge seine Nummern.

Ich verstehe nicht, was ihn überhaupt dazu bewegt, öffentlich Urteile über andere Musiker oder Personen aus dem Business abzugeben oder – besser gesagt – was ihm daran liegt, öffentlich dem einen den Vorzug vor dem anderen zu geben. Ok, Leiber & Stoller sind nicht sein Ding. Na sowas? Sam Phillips liegt ihm näher als Ahmet Ertegün? Was für eine Überraschung! Abba sind in der spießigen Hall of Fame, aber nicht ein obskurer Billy Lee Riley, mit dem er allerdings persönlich bekannt ist? Ach was?

Mich wundert auch, dass er überhaupt auf Kritik an seiner Stimme/seinem Gesang reagiert. Es ist doch seit 100 Jahren klar, dass seine Stimme „like sandpaper and glue“ (Bowie) nicht das geeignete Mittel ist, um zu gefallen, aber gerade deswegen eins seiner Markenzeichen. Und – Oh mein Gott! – bei einem Boxkampf hat jemand die amerikanische Nationalhymne zersungen! Was erwartet er denn für kulturelle Leistungen bei einem Boxkampf? Wieso muss das als Vergleich herhalten? Mein Gott, Bob, die Kritik an deiner Stimme hat sich doch mehr als erledigt – gab es sie eigentlich jemals? – und mit über 70 Jahren, Millionen verkaufter Platten, einer treuen Fanbase und einer gefühlten Heiligsprechung zu Lebzeiten kann Dir das doch echt egal sein!

Eigentlich ist es uninteressant, was er zu erzählen hat. Er rennt eine offene Tür nach der anderen ein und das meiste davon hätte er sich eigentlich sparen können. Früher war es ihm egal, was das die Leute erwarterten, hielt dann erst recht trotzig dagegen, jetzt, wo er es nicht mehr nötig hat, wirbt er um Anerkennung? Hört sich ein bisschen so an, als wolle er im hohen Alter noch mal was loswerden.

--

“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)