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bullschuetz
Erstens hinkt der Vergleich ein bisschen. Als Künstler kommentarlos seinen Gig runterzureißen, das Geld zu nehmen und zu verschwinden aus einem Land, in dem gerade ein anderer Künstler verhaftet worden und spurlos verschwunden ist – das scheint mir doch etwas anderes zu sein, als ein China-Entchen für die Badewanne zu kaufen.
Ich weiß nicht so recht – ist das so? Wenn jemand China generell boykottiert und findet, dass andere das auch tun sollten – ok. Wenn nicht, dann kann man ihm doch vorwerfen, dass er anderen gegenüber moralische Ansprüche einfordert, die er selbst nicht erfüllt. Das erinnert mich an das Clinton-Impeachment, als ein Republikaner, Newt G. aus GA, beim Seitensprung erwischt wurde und dennoch der Meinung war, dass für ihn als Speaker des House of Rep. andere Maßstäbe gelten als für den Präsidenten.
Zweitens: Klar, Doppelmoral ist weit verbreitet – aber kann man daraus folgern, dass jede moralische Fragwürdigkeit okay ist, weil sowieso jeder moralisch fragwürdig handelt? „Wir boykottieren doch alle keine chinesischen Waren, also kann auch ein Künstler auftreten, wo er will …“ Hm.
Wie gesagt: umgekehrt wird ein Schuh daraus. „Mit welchem Recht forderst Du etwas von Dylan, was Du nicht einmal selbst zustande bringst?“
Nochmal: Ich schwimme ja selber bei dem Thema, mir ist schon klar, dass man das so oder so sehen und dabei trefflich in die Details gehen kann. Ich wundere mich bloß über die hier allgegenwärtige Nonchalance, mit der nahegelegt wird, es sei geradezu abwegig, komplexe moralische Zwiespälte überhaupt anzusprechen.
Trotz aller Menschenrechtsverletzungen muss man der chinesischen Führung zugestehen, dass sie die Lebensbedingungen von hunderten Millionen (!) Chinesen deutlich verbessert hat. Zur Zeit des Großen Sprungs nach vorn verhungerten dutzende Millionen (!) Chinesen, was hier lebende Vollidioten in den 1960ern und 1970ern nicht davon abhielt, Mao als großartigen Führer zu preisen und den in Buchform gesammelten Schwachsinn dieses Massenmörders zu besabbern. Im Gegensatz dazu besteht die aktuelle chinesische Führung ja aus Menschenrechtsaposteln. Anders gesagt: Ich kann mit dem heutigen China leben. Ich beäuge es durchaus misstrauisch, würde es aber nicht insgesamt verdammen.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.