Re: Bob Dylan

#294325  | PERMALINK

cannaarkotic

Registriert seit: 08.07.2002

Beiträge: 2,230

Ich höre gerade den bootleg vom Nürnberger Konzert 1978. Von mieser Stimmung keine Spur. Die Band in prima Spiellaune,- wenn auch diese Überfrachtung mit Damenchor und Saxophon-Klimax etwas nervt.

Einige Tage zuvor in Berlin wurde Dylan nebst Mitstreitern gnadenlos ausgepfiffen. Das sehr laute Konzert in der Deutschlandhalle wurde streckenweise vom Pfeifkonzert aus dem Publikum übertönt. Sowas habe ich nie wieder erlebt. Während des Zugabenteils war die Halle (15.000 Plätze) bis auf vielleicht 200 Leuten vor der Bühne LEER.

Der Konzert-Impresario Fritz Rau (seinerzeit für die Dylan-Tournee verantwortlich) hat mal referiert, wie er und Dylan diese Tage erlebt haben. Dylan habe ihn befragt, warum er in Berlin so ein giftiges Publikum erleben musste,- und warum Nürnberg kurz danach ein wirklicher Erfolg wurde.
Rau erklärte, dass in Berlin geballt dogmatische Folk-Puristen im Publikum waren und Dylan's 8-9-köpfige Vollbedienungs-Band akustisch und mit Wurfgeschossen traktierten. In Nürnberg hingegen sei die Örtlichkeit entscheidend gewesen. Auf dem Zeppelinfeld – dem ehemaligen Nazi-Aufmarschgelände – stand das Publikum mit dem Rücken zu jener Tribüne, auf der die Faschisten die Aufmärsche und Paraden abnahmen. —> Eine symbolische Veranstaltung mit Dylan,- eine Umwidmung der Lokalität sozusagen…

******************************************************
…und noch ein paar erhellende Zeilen zu den Ereignissen damals in Berlin…:

„Und der Sänger Dylan in der Deutschlandhalle“ heißt ein Gedicht von Thomas Brasch, das sich in dessen vielgerühmter Sammlung „Der schöne 27. September“ findet: „ausgepfiffen angeschrien mit Wasserbeuteln beworfen / von seinen Bewunderern, als er die Hymnen / ihrer Studentenzeit sang im Walzertakt und tanzen ließ / die schwarzen Puppen, sah staunend in die Gesichter / der Architekten mit Haarausfall und 5000 Mark im Monat, / die ihm jetzt zuschrien die Höhe der Gage und / sein ausbleibendes Engagement gegen das Elend der Welt. So sah / ich die brüllende Meute: Die Arme ausgestreckt im Dunkel neben / ihren dürren Studentinnen mit dem Elend aller Trödelmärkte / der Welt in den Augen, betrogen um ihren Krieg, / zurückgestoßen in den Zuschauerraum / der Halle, die den Namen ihres Landes trägt, endlich / verwandt mit ihren blökenden Vätern, / aber anders als die / betrogen um den, den sie brauchen: den führenden Hammel. / Die Wetter schlagen um: / Sie werden kälter. / Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter.“
1978 hatte Brasch, so berichtet Günter Amendt (siehe Literaturliste), Dylans Konzert in der ausverkauften Berliner Deutschlandhalle besucht: Gegenstände wurden auf die Bühne geworfen, der Konzertveranstalter Fritz Rau riet, keine Zugaben mehr zu spielen. Eine Woche später erschien in einem Berliner Blatt eine kuriose Anzeige, in der Bob Dylans Tod bedauert wurde. Warum das alles? Offenkundig hatte eine Generation gemerkt, dass ihr Anti-Establishment-Idol abhanden gekommen war und dass sie, inzwischen „fully established“, ein solches Idol noch immer dringend nötig hatte. Als sich das Publikum allmählich mit dem neuen Bild des Sängers anfreundete, zimmerte sich Dylan inzwischen schon behende wieder einen neuen Rahmen zurecht. Wer sich Dylan nähern möchte, darf nicht still sitzen.
Quelle:
http://www.wienerzeitung.at/frameless/lexikon.htm?ID=9679

--

Nun gründe nicht gleich ein Wrack-Museum, wenn Dir ein Hoffnungs-Schiffchen sinkt!