Re: Bob Dylan

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wilbur

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Marcus: Basement Blues

Zeitreise durch den Keller/ Von Francesco Campagner

„Odds and ends, odds and ends, lost time ist not found again“ („Odds And Ends“, Bob Dylan).
Die Suche nach der verlorenen Zeit ist eine der dankbarsten Aufgaben. Vergangenes entwickelt sich nicht weiter, Erinnerungen färben sich mit den Jahren nicht ab, sondern werden meist bunter und schöner. Der erste Kuß, die erste Liebe und die erste Platte werden zu Meilensteinen der eigenen Lebensgeschichte. Diese beglückenden Erlebnisse immer wieder aufleben zu lassen, ist für manche Lebenselixier.
Greil Marcus, US-amerikanischer Popjournalist, der durch sein „Mystery Train“ in den siebziger Jahren auch hierzulande bekannt wurde, ist ein Meister im Nachempfinden längst vergangener Augenblicke. Sein neuestes Werk „Basement Blues – Bob Dylan und das alte unheimliche Amerika“ beschäftigt sich mit der amerikanischen Vergangenheit. Der Mann, der 25 Jahre warten mußte, bis – nach seiner Meinung – wieder eine gute Dylan-Platte das Licht der Welt erblickte, hat die „Basement Tapes“ von Bob Dylan & The Band als Ausgangspunkt seiner literarischen Reise auserkoren.
Die „Basement Tapes“ entstanden 1967, einzelne Songs waren lange nur auf Bootleg-Platten zu hören, ehe eine Auswahl der legendären Aufnahmen 1975 offiziell bei Columbia als Doppelalbum erschien. Dylan hatte sich nach Woodstock zurückgezogen und dort mit der Band über einen längeren Zeitraum musiziert.
Die „Basement“-Sessions hatten es Marcus, der auch den Covertext bei der offiziellen „Basement Tapes“-Platte geschrieben hat, seit jeher angetan. Als er in den Neunzigern auf das 5-CD-Bootleg-Set „The Genuine Basement Tapes“ stieß, ließ er sich erneut von dieser Musik zu eigenwilligen Gedanken verleiten.
„Die Frage, die mir wichtig erscheint, ist nicht, was in dem Musikstück passiert, sondern was man heraushören kann“, gibt Marcus seinen methodischen Ansatzpunkt preis. Was der Künstler mit dem Stück meinte, ist für ihn unwesentlich. Deswegen sind die „Basement Tapes“ auch nur der Ausgangspunkt einer Reise, die durch die amerikanische Vergangenheit führt. Marcus entdeckt Parallelen zu der Musikergeneration der zwanziger Jahre und beschäftigt sich mit der damaligen politischen und gesellschaftlichen Lage.
Willkommen war dabei die „Anthology Of American Folk Music“ (als 6-CD-Set auf Smithsonian/Folkways – Vertrieb: Koch International – 1997 wiederveröffentlicht), die Harry Smith in den 50er Jahren zusammengestellt hatte und als Bibel der Folk-Bewegung der Sechziger fungierte. Mit der Musik von Leuten wie Dock Boggs haben sich natürlich schon andere Autoren beschäftigt, auch mit deren Einflüssen auf die Musik Bob Dylans.
Greil Marcus hat keine neue Tür geöffnet, doch ihm gelingt es, mit seinem Hang zu auch gewagten Assoziationen vorhandene, aber bislang im Schatten gebliebene Aspekte hell auszuleuchten. Das Leitmotiv der Reise sind die Masken, mit denen – wie Marcus vermutet – ein jeder Amerikaner sein wahres Ich verbirgt. Vielleicht wurden deswegen bei der deutschsprachigen Ausgabe von „Basement Blues“ zwei Alben Dylans der siebziger Jahre am Cover abgebildet, als sich Meister Zimmerman nach dem Empfinden von Marcus wohl hinter einer Maske verborgen hatte, die er erst in den Neunzigern mit „Good As I Been To You“ und „World Gone Wrong“ abstreifte.

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Greil Marcus: Basement Blues – Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika. Übersetzt von Fritz Schneider. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins. Hamburg, 1998.

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Erschienen am: 16.05.1998

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Gefundene Rechtschreibfehler dürfen behalten werden! Ich habe keine Verwendung dafür. Und übrigens: "Optimismus ist nur ein Mangel an Information"