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Ein Artikel aus der Berliner Zeitung
Ein Blick in die Hölle, die Leben heißt
Die einzigartige Lucinda Williams im Schiller-TheaterFrank Junghänel
Der Abend mit Lucinda Williams hätte auch gründlich schief gehen können, das ließ sich nach ein paar Minuten ahnen, als sich die Sängerin im ersten Song unterbrach und etwas verstört noch einmal von vorn begann. „He can’t rescue you“, sang sie nun wiederholt und das Schlagzeug fegte leise dazu, „can’t pull the demons from your head.“ Wer weiß, was die Dämonen mit ihr vorhaben, an diesem Tag. In einem Theater voller hingebungsbereiter Berliner Menschen, denen Lucinda Williams in letzter Zeit als die großartigste und schwierigste Songwriterin überhaupt empfohlen worden war. Aus dem Rampenlicht gesehen, wirkt der Zuschauerraum wie ein schwarzes Loch. Es kann passieren, dass dorthin alle Energie verschwindet. Lucinda Williams hat einmal nach drei Songs ein Konzert abgebrochen, weil es nicht ging.
In glücklichen Momenten kehren sich die physikalischen Regeln einfach um. Dank eines ebenso aufmerksamen wie euphorischen Auditoriums im Schiller-Theater fand Lucinda Williams Song für Song zu sich, legte ihre anfängliche Nervosität ab und steigerte sich in ein Konzert hinein, das ihr auch selbst immer besser zu gefallen schien. Wann hat man in jüngster Zeit schon mal ernst gemeinte Komplimente an ein Berliner Publikum gehört, dessen Stieseligkeit nun weltberühmt ist.
Rockkonzerte im Sitztheater sind oft von zweifelhaftem Vergnügen, in diesem Falle jedoch bot die Guckkastenbühne den idealen Rahmen, handelte es sich doch eher um einen Liederabend, wenn auch von einer elektrischen Band begleitet. Lucinda Williams war gekommen, ihr Songbook zu interpretieren. Es lag die ganze Zeit vor ihr, voluminös wie ein Telefonbuch, von einer Leselampe beleuchtet. Zum Ende hin, als das Repertoire loser wurde, kam öfter ein Assistent nach vorne und blätterte die Seiten um. Zunächst aber hatte die Sängerin noch alles parat. „Rescue“, „Ventura“, „Blue“, was für wunderbar schreckliche Gedichte von Liebe, Tod und Teufel, erfühlt, ertastet von einer Interpretin, deren Stimme in einem Atemzug von Trauer in Wut umschlagen kann und dabei immer ein bisschen nach verschmiertem Lippenstift klingt. Als Lucinda Williams „Fruits Of My Labour“ sang und sich danach mit einem Küsschen bei ihrem langjährigen Gitarristen Doug Pettibone bedankte, wusste man, es würde gut werden. Dann wurde es fantastisch.
Bei „Joy“ griff sie zur elektrischen Gitarre, ihren alten Hit „Passionate Kisses“ spielte sie in einer Akustik-Punk-Version à la Billy Bragg, das Duett „Jailhouse Tears“ war wirklich zum Weinen und „Drunken Angel“, wie man sich denken kann, auch.
In ihrer mehr als dreißigjährigen Karriere hat sich Lucinda Williams ein Werk erschaffen, das sie in den 54 Jahren ihrer Biografie erst einmal erleben musste. Wenn sie sagt, jeder ihrer Songs basiere auf einer wahren Begebenheit, dann kann man sich vorstellen, was sie auf der Reise mit sich durchgemacht hat.
Manches davon klang an diesem Abend nicht nur in ihren Liedern an. Sie erzählte von ihrem verschollenen Bruder, von toten Freunden und von einem vormaligen Liebhaber, der sich nicht einbilden solle, das nächste Stück handle von ihm. Es sei ein Liebeslied für sie selbst. „Unsuffer Me“ – eine Befreiung.
Berliner Zeitung, 09.11.2007
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