Re: Eric Dolphy

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hat-and-beard
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Oje. Zu viele, Nein! zu schwierige Fragen für mich, tops. Ich bin unterinformiert, nicht belesen genug. Mein „Jazzverständnis“ hat sich bis jetzt – nicht nur, aber hauptsächlich – aus (vergleichendem) Hören entwickelt und gespeist. Ich weiß nicht genug über zeitgenössische Jazzwahrnehmung. Also: Alles Folgende sind relativ haltlose, aber für mich recht schlüssige Vermutungen. In einer für mich sinnvollen Reihenfolge, also die Reihenfolge Deiner Fragen missachtend.

Ich bin mir ganz sicher, dass die Jazz-Kritik den Tendenzen teilweise stark hinterherhinkte. Wirkliche Neuerungen wurden zunächst abgelehnt. Parker etwa hat Jahre um Akzeptanz kämpfen müssen; Monk war bis zu seinem erfolgreichen Five Spot-Engagement 1957, gute 10 Jahre nach seinem ersten kreativen Höhenflug also, ein „musician’s musician“; Coltrane sah sich nach den äußerst negativen Reaktionen auf sein Village Vanguard-Wochenende 1961 gezwungen, innezuhalten und für seine Verhältnisse konservative LPs wie „Ballads“ (großartig trotzdem!) und das Album mit Johnny Hartman zu veröffentlichen. Drei Beispiele von hunderten. Diese Musiker betrachten wir heute – zu recht, wie ich meine – als stilbildende, fortschrittliche Größen der Jazzhistorie. Als sie auf ihrem kreativen Höhepunkt waren, wurden sie nicht oder negativ wahrgenommen.

Meiner Wahrnehmung nach waren Musiker, die halbwegs state-of-the-art spielten, nur dann von der Kritik, die ja bis in die 60er hinein nahezu ausschließlich von Weißen gestellt wurde, anerkannt und somit populär, wenn sie entweder eine irgendwie revivalistisch geartete (Hard Bop etwa) oder eine stark europäisierte (Brubeck (Pfui!), Modern Jazz Quartet) bzw. radiotaugliche (West Coast Jazz) Spielweise vertraten.

Ich nehme an, dass die Gutwilligkeit der Jazz-Kritik Dolphys frühen LPs gegenüber wahrscheinlich auch dem außergewöhnlichen Erfolg von Chico Hamiltons Combo geschuldet war, in der er ja zwei Jahre lang Mitglied gewesen war. Außerdem waren diese LPs, gemessen an der „Avantgarde“ Colemans, relativ leicht einzuordnen.
Bis 1964, als nun „Out To Lunch“ erschien, hatte sich die öffentliche Wahrnehmung Dolphys ja extrem gewandelt. Er war als Sideman Coltranes fast ebenso wie dieser mit Hohn, ja, mit Hass überschüttet worden. Man erinnere sich an Miles Davis‘ lächerliches Statement, als ihm bei einem Down Beat-Blindtest eine Dolphy-Aufnahme vorgespielt wurde: „Sounds like someone’s standing on his toes.“ So oder ähnlich. Dass „Out To Lunch“ beim Release nicht beachtet wurde, mag sein – darüber weiß ich nichts. Pläne, nach Europa zu gehen, hatte Dolphy schon vor Erscheinen der LP. Sie werden bereits in den Liner Notes erwähnt.

Zum amerikanischen Jazz in Europa: Die Musiker, die sich, aus persönlichen oder musikalischen Motiven, hierher geflüchtet hatten, sahen sich zunächst (z.B. im UK, man lese P.J. Jones‘ Anekdote in Art Taylors Buch „Notes And Tones“) mit diversen Schwierigkeiten, was Arbeitsbedingungen betraf, konfrontiert. Viele waren dann hier sehr populär, Dexter Gordon etwa, aber kaum einer erreichte noch Neues, weder Gordon, noch etwa der arme, kranke Bud Powell oder Don Byas. Und auch hier waren die eher „konservativen“ Musiker (Gordon, Gillespie in den 60ern) beliebter als die Neuerer. Die Europäer wollten doch zum Großteil nur die Hits, die sie von den Import-LPs kannten, hören. Gut nachzuverfolgen auf Live-LPs. Spielen die Jazz Messengers „Moanin'“ oder Mingus „Fables Of Faubus“, ist der Jubel groß. Tritt Mingus jedoch in reichlich abstrakten instrumentalen Dialog mit Dolphy („At Antibes“, „Mingus In Europe“), lässt sich sofort ein deutliches Murren vernehmen. Ausnahmen wie den esoterischen Spinner Berendt, der alles toll fand, was „anders“ war, gab es freilich auch.

Die wichtigste Frage bleibt: Wie hätte Dolphy weitergemacht?

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God told me to do it.