Re: Electric Light Orchestra (ELO) – Jeff Lynne

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pelo_ponnes

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Electric Light Orchestra [ELO] – Balance of Power

„Balance of Power“ ist sicherlich eines der umstrittensten Alben des ELO-Backkatalogs, auch in Fankreisen. Für alle die, die die Rezension im RS keineswegs als „gnädig“ empfinden – die irgendwie insgesamt richtungslose Rezension (wenig Infowert bzgl. der Musik, insbesondere von OOTB) wird natürlich nur durch die ****-Wertung gerade so gerettet – hier nun ein anderer, positiverer Blick auf das Album. Denn: sicher ist das Album nichts für Feinde der Musik der 80er-Jahre, aber wer frostigen Synthiepop, Depeche Mode oder Ultravox mag, der dürfte an dem Album sehr viel Gefallen finden.

1. Albuminformationen

– VÖ: Februar/April 1986 Epic (UK) (zunächst versehentlich auf Jet); CBS Associated (US)
– Produzent: Jeff Lynne
– Studios: Compass Point Studios, Nassau;Hartmann Digital, Untertrubach, Franken, Dtld; Musicland München (Remix)
– Toningenieure: Bill Bottrell (Compass Point); Tom Thiel (Hartmann); Mack (Musicland)
– alle Songs geschrieben von Jeff Lynne

2. Musiker und Mitwirkende

Das Album wurde im wesentlichen von Jeff Lynne (Gesang; Hintergrundgesang; Gitarre; Bassgitarre; Piano; Keyboards) und Richard Tandy (Keyboards; Piano; Programming) eingespielt. Bev Bevan gehörte auch noch zum offiziellen Line-Up der Studioband, hatte aber wohl nicht allzu viel zu tun, zumal Lynne ja zu dieser Zeit auch viel mit Drumcomputern arbeitete und die Schlagzeugparts ohnehin sehr einfach gehalten waren. Kelly Groucutt, der im November 1983 die Band verklagte, weil er der Meinung war, zu wenig Geld für seinen Beitrag zum ELO-Sound zu erhalten – er wurde wie die meisten ELO-Musiker wie ein Angestellter der Firma ELO bezahlt und nicht wie ein richtiges Bandmitglied -, war nun endgültig aus der Band ausgeschieden.Einen recht wichtigen Beitrag zum Album-Sound steuerte der bekannte deutsche Sessionmusiker Christian Schneider (Westernhagen; Extrabreit; später Mitglied von BAP) bei, der für die Saxophonklänge verantwortlich zeichnete.

3. Zielsetzung

Das neue Album sollte einen Neuanfang und neuen Abschnitt in der ELO-Geschichte markieren. In neuer Umgebung, mit anderen Leuten usw.Jeff Lynne wollte ganz bewusst einige Dinge anders machen, ohne gänzlich den Rahmen des ELO-Konzepts zu verlassen. In gewisser Weise war das Album Lynnes vorerst letzter Versuch, das ELO-Konzept so umzuformen, dass es immer noch mit seinen derzeitigen musikalischen Vorlieben zusammenpasste. Als der Erfolg ausblieb, vollzog dann Lynne mit dem folgenden Album den engültigen Schnitt und erschuf praktisch mit „AT“ einen Sound, der sich vor allem als Gegenentwurf des ELO-Soundes verstand, zumal Lynne darauf abzielte, möglichst all die Dinge anders zu machen, die er als typisch für die Herangehensweise bei einem ELO-Album erachtete.

Vor allem mit zunehmendem Rückgriff auf das Overdubverfahren hatte Lynne mehrfach mit dem Gedanken gespielt, die Band fallenzulassen und Platten unter seinem eigenen Namen zu machen. Vermutlich begann er Ende der 70er, ELO endgültig nur noch als Soundkonzept zu betrachten, während der Bandgedanke immer mehr in den Hintergrund trat. Nun war das ELO-Konzept schon recht früh in der Weise geöffnet worden, dass sich in seinem Rahmen doch recht unterschiedliche Musik veröffentlichen ließ. Eines schienen die Leute bzw. die Plattenfirma aber immer zu erwarten: das Vorhandensein von Streicherklängen. Und genau dies hing Jeff zunehmend zum Hals heraus. Schon mit Discovery begann der Prozess des immer leiseren Abmischens der Streicher. Auf „Secret Messages“ gab es nur noch wenige Songs mit Streichern. Danach wollte Lynne nun wirklich keine Musik mit Streichern mehr machen, was ein wesentlicher Grund war, dass er einen Schlusstrich unter ELO ziehen wollte. Ein anderer war natürlich der Druck, Hits zu produzieren und seine wachsende Unlust auf große Tourneen. Dazu kamen Querelen in der Band, insbesondere mit Kelly, aber auch mit Bev, der zunehmend seine minimierte Rolle beklagte. Dass sich Lynne dann doch zu einem weiteren ELO-Album aufraffte, lag zum einen an seinem Knebelvertrag mit der Plattenfirma, andererseits aber auch daran, dass Lynne sich von seinem Management überzeugen ließ, dass seine neue Musik sich durchaus noch mit dem ELO-Konzept vereinbatren ließ. Man konnte „Orchester“ ja auch im übertragenen Sinne sehen. Demnach konnte man argumentieren, dass es der große Klang waren, der eben über einen normalen Gruppensound hinausging. Und dies war immer noch der Fall.
Was Lynne also im Sinn hatte, war, das ELO in eine orchesterinstrumentenfreie, majestätische Popband im Soundgewand der 80er-Jahre zu überführen. Ein rhythmischer und reduzierterer Sound war die neue Zielsetzung.

4. Albumentstehung und Aufnahmetechnik

Als Lynne an die Arbeit ging, war er trotz gegenläufiger Aussagen durchaus motiviert und sprühte vor Ideen (vgl. die Informationen und Zitate im Booklet der Remaster Edition). Die ganzen Aufnahmesessions wurden zweifellos geprägt von privaten und geschäftlichen Problemen: Probleme mit seiner Frau, Freunden, Bandkollegen (siehe Kelly), Plattenfirma und Management, Schicksalsschläge, Grübeleien bezüglich der Zukunft der Band und Aufnahmen als Solokünstler. Zunächst verstand Lynne es aber, daraus die Inspiration für ein neues Album zu ziehen. Erst viel später verging ihm so richtig die Lust. Nämlich dann, als sich die Plattenfirma massiv einmischte und ihm unterschiedliche Anweisungen gab, welchen Sound er anstreben sollte. Schließlich verlor Jeff seine anfänglichen Ziele doch etwas aus den Augen, probierte eine Vielzahl von Abmischungen aus und änderte und änderte….

Im Januar 1984 gab es erste Meldungen („Sounds“) bezüglich der Pläne Jeff Lynnes, ein neues ELO-Album aufzunehmen. Dass Lynne aber immer noch nicht wusste, ob er wirklich zu einem neuen ELO-Album bereit war, zeigt sich in seinen Ausflügen als Solokünstler („Electric Dreams“-Soundtrack-Beiträge) und in seinen Arbeiten als Produzent, Komponist und Musiker für andere, insbesondere für Dave Edmunds. Es war also offenbar ein Hin und Her und bedurfte einiger Überredungskunst, ehe Lynne wirklich als „ELO“ aufnehmen wollte. Aber dann wollte er es nochmal richtig wissen.

Die Aufnahmen begannen wohl September 84 in den Compass Point Studios, Nassau, Bahamas. Dort wurden einige Backing Tracks komplett fertiggestellt. Nach 11 Aufnahmewochen folgte 1985 der Wechsel von den heissen Bahamas ins winterliche Unterfranken, wo sie sich im Februar /März 1985 etwa sechs Wochen im Studio Hartmann Digital aufhielten, damals für etwa ein Jahr eines der führenden Studios Europas, das wie die Compass Point Studios mit dem SSL-System (Solid State Logic System)arbeitete. (Dieser Studio- und Jahreszeitenwechsel hat sich nach Lynne auch im Sound niedergeschlagen). Im Anschluss daran ging es in die Musicland Studios in München, wo mit Mack am Feinschliff gearbeitet wurde. Dies war ursprünglich nicht vorgesehen, da Lynne bewusst mit neuem Umfeld arbeiten wollte. Offensichtlich hatten ihm Plattenfirma und Management aber so sehr reingeredet, dass er sich zu diesem Schritt gezwungen sah oder ihn als notwendig empfand. Nicht zuletzt hatte die Plattenfirma ihm zu einem mehr keyboardlastigeren Sound geraten. Mack beschrieb auch in einem Interview, dass Jeff damals tatsächlich nicht mehr wusste, welche Abmischung er wählen sollte, so dass für die Endabmischung der Input von Mack sicher großes Gewicht besaß. Ende April 1985 war das Album nach neueren Aussagen von Bev Bevan und auch Reinhold Mack fertiggestellt. Obwohl es die Liner Notes der Remastered Edition oder auch Angaben zum Aufnahmezeitraum in „Flashback“ anders erscheinen lassen, gab es danach keinen weiteren Remix. Aber das Album wurde zunächst einmal zurückgehalten. Im Sommer 1985 endete auch der Vertrag mit Jet und dem Arden-Management. Neuer Manager von Jeff wurde Craig Fruin. ELO wechselten zu Epic in Europa. In Amerika war man bei CBS Associated. Im Februar 1986 jedenfalls, etwa ein Jahr später als geplant, wurden die neuen Aufnahmen unter dem Titet „Balance of Power“ veröffentlicht.

Während der Aufnahmen zu BOP war Jeff Lynne weiter eingetaucht in die Möglichkeiten des digitalen Aufnahmestudios. In Interviews stellte Lynne klar heraus, dass sich Aufnahmeverfahren und Rolle des Produzenten im digitalen Zeitalter deutlich verändert hätten. Er hatte dazu durchaus ein ambivalentes Verhältnis. Während es früher darum ging, neue Klänge zu erfinden, käme heutzutage jeder durch die digitalen Keyboards/Chips ziemlich leicht zu den gewünschten Ergebnissen und Klängen. Das bedürfe keiner großen Mühe mehr. Alles sei schon da. In anderen Interviews beklagte er, dass er sich teilweise gar nicht mehr wie ein Musiker vorkam. Die Computer hätten all den Spaß gehabt.

Wie das genaue Aufnahmeverfahren für BOP aussah, kann ich nicht genau beschreiben wegen lückenhafter Infos und fehlender Kenntnisse(Es gab mal ein recht aufschlussreiches Interview mit Richard Tandy über die Arbeitsweise des postorchestralen ELO, das ich allerdings partout nicht ausfindig machen kann). Zumindest aber kann festgestellt werden, dass es im Hybridverfahren sowohl mit analoger als auch digitaler Audioaufnahmetechnik produziert wurde. Bandmaschinen bildeten weiterhin die Basis. BOP ist eine 48-Spur-Aufnahme. Es war zu lesen, dass es vor allem im Compass Point einige Probleme gab bei den zwei zusammengeschalteten 24-Track-Maschinen. Es kam durchaus viel analoges Equipment zum Einsatz. Andererseits wurde intensiv zurückgegriffen auf Computer, MIDI-Technologie, vorprogrammierte Sequenzen und Samples. Jeff beschreibt vor allem seine Freude, die er mit der AMS delay und Harmoniser Box hatte. Die neuen Möglichkeiten kamen Jeff insofern entgegen, als es nun möglich wurde, alles Erdenkliche (weniger von anderen, als von sich selbst) zu sampeln und problemlos in unterschiedliche Songkontexte wandern zu lassen. Im Prinzip konnte er nun zeitsparend das machen, was im analogen Zeitalter einen Riesenaufwand bedeutete.
Der lange Aufnahmezeitraum verstärkte noch Jeffs ohnehin vorhandene Tendenz, einen und denselben Backing Track mit unterschiedlichen Lyrics und Melodien auszuprobieren und unterschiedlichste Abmischungen auszuprobieren. Außerdem probierte er unterschiedliche Brückenteile aus, so dass 2 Alternativversionen des einen und selben Tracks durchaus als 2 ganz unterschiedliche Songs empfunden werden können, weil sie sich eben doch sehr deutlich unterscheiden. Schließlich muss noch auf Jeffs Schneidewut hingewiesen werden. Bei allen Stücken wurde reichlich editiert bis zur Endversion, weil Jeff offensichtlich – im Gegensatz zu SM – auf der Suche nach dem perfekten 3-Minutenpopsong war und unnötige Längen vermeiden wollte. Vielleicht übertrieb er es manchmal ein bisschen.

5. Genre, Konzept, Klangbild

Wäre BOP in den 70er-Jahren erschienen, hätte man es womöglich als Konzeptalbum präsentiert. Da Konzeptalben Mitte der 80er-Jahre eher verpönt waren, wurde nicht explizit darauf verwiesen, dass sich im Grunde durch das Album ein loses thematisches Konzept zieht, im Sinne solcher Konzeptwerke wie „Wish You Were Here“ (Abwesenheit) oder den Alben von APP, die sich jeweils mit einem bestimmten Thema auseinandersetzten. „Balance of Power“ behandelt thematisch das Ende einer Beziehung/eines Lebensabschnittes auf verschiedenen Ebenen: Während einige Texte sich konkret mit einer Beziehung zu einer Frau beschäftigen, sind die meisten Texte bewusst wenig konkret, denn es war von Jeff gewollt, dass sie sich auf verschiedene Kontexte anwenden lassen. Darin spiegelt sich (obwohl Jeff es verneint hat) ohne Zweifel seine eigene Situation wieder, da er ja, wie bereits geschildert, an allen Fronten -Privat, Band, Plattenfirma…- mit Beziehungsproblemen zu kämpfen hatte. In allen Stücken kommt dieses Gefühl der Frustration und Leere zum Ausdruck, dass man hat, wenn man weiss, dass etwas zu Ende geht, sich mit allen Mitteln dagegen stemmt, aber letztlich machtlos ist: der Traum ist aus, der point of no return ist erreicht. Einsamkeit, Hilflosigkeit, der Wunsch davonzulaufen und die Angst vor dem Neuen, all diese Stimmungen werden perfekt durch die Stücke eingefangen.

Bei der Anordnung der Songs hat Jeff Lynne wie immer auf eine logische Reihenfolge der Songs geachtet und somit schon sichergestellt, dass es sich um mehr als eine bloße Zusammenstellung von Liedern handelt: BOP ist schon ein Album mit durchgehender Atmosphäre, allerdings fehlen die bei den meisten ELO-Alben vorzufindenden Einleitungen und Überleitungen, Zwischenspiele diesmal völlig. Das Fehlen der Überleitungen (die noch auf SM zu finden waren) zwischen den Songs ist auch im Zusammenhang mit der Zielsetzung der Konzentration auf den eigentlichen Song zu sehen. Die Stücke fallen, was die Spieldauer betrifft, auch wegen des Verzichts auf weitschweifige Einleitungen oder Fade-outs viel kürzer aus als die von „Secret Messages“. Interessant ist allerdings, dass man zunächst offensichtlich durchaus an Einleitungen und Überleitungen gedacht hat (siehe das Opening als Bonus Track) und erst später bewusst den Einzelsong in den Vordergrund und das offensichtliche Gesamtkonzept in den Hintergrund gestellt hat.
„Balance of Power“ wartet mit einem auf Hochglanz polierten, edlen, keyboardlastigen Pop auf und bewegt sich damit einen Schritt weg von „Secret Messages“, bei dem Gitarren eine größere Rolle spielten. Der offensichtlichste Einfluss ist der Electro-Pop der Mitachtziger, Marke Depeche Mode. Neben den traditionellen Einflüssen ließ sich aber Lynne auch von anderen mehr oder weniger aktuellen Sachen beeinflussen. Stevie Winwood scheint Lynne beispielsweise gehört zu haben. Auch brachte Lynne seine aktuelle Begeisterung für Rockabilly auf seine Weise in das Album ein. Und auch der Aufenthalt auf den Bahamas und der Latino-Rock fanden in der Perkussion ihren dezenten Niederschlag. Bezüglich des Klangvolumens ist festzuhalten, dass durch den Verzicht auf die Orchestrierung nach Lynne etwas an Klangfülle verloren ging. Dies sei ein starkes Bedürfnis gewesen. „Less is more“ sei damals seine Devise gehören. Durch den Verzicht auf die Streicher wäre etwas mehr Raum freigeworden, und man konnte endlich mal den Song hinter dem Streicherdickicht hören. Der Leadgesang konnte dadurch mehr in den Vordergrund rücken. Soweit Jeff Lynne. Der Gesang ist tatsächlich deutlich lauter abgemischt. Auch unterscheiden sich der Hintergrundgesang und die Harmonien, die diesmal ausschließlich von Jeff eingesungen wurden, deutlich von früheren Alben. Das alles hat eine ganz eigene Qualität. Bezüglich der Reduktion der Klangfülle muss einschränkend freilich gesagt werden, dass dies natürlich nur im Vergleich mit ELOs Bombastalben wie OOTB zu sehen ist. Natürlich ist BOP alles andere als spartanisch arrangiert, und die fehlenden Streicher wurden eben durch zusätzliche Schichten von Keyboards „ausgeglichen“. Erwähnenswert ist auch, dass es einige streicherähnliche Synthiesounds zu hören gibt, die aber im Vergleich zur Frühversion des Albums nochmal deutlich reduziert wurden, wie insbesondere Sorrow About To Fall zeigt. Was die verwendeten Keyboards anbelangt, so hat man neben den neuesten High-Tech-Keyboards und Sequencern auch weiter auf ältere analoge Synthies gesetzt, zumal die nach Lynne einen besseren Sound hatten. Mir ist keine Auflistung der verwendeten Keyboards und Synthies bekannt. Wie Abbildungen zeigen bzw. Interviews mit Tandy vermuten lassen, kamen Synthesiser von Roland (Alpha Juno) oft zum Einsatz. Auch haben, wie schon bei „Secret Messages“, das Oberheim-System (OBXa, Sequencer; Drumcomputer DMX) und der Yamaha DX-7 eine wichtige Rolle gespielt. Allem Anschein benutzten ELO ferner recht häufig einen Synthie von Korg, das Kurzweil Grand Piano und den EmulatorII+ für Samples. Bei all den Schichten von Keyboardsounds mag man zunächst überhören, dass auch traditionelle Instrumente einen wichtigen Beitrag zum Klangbild beitragen. Das Saxofon prägt einige Stücke ganz entscheidend. Auch die perkussive Seite des Albums wird nicht nur von Elektronik bestimmt. Bei einigen Stücken wie So Serious spielt die Bongo-Perkussion eine tragende Rolle. Bei Send It fällt bei genauem Hinhören das mit Besen gespielte Schlagzeug auf.
Obwohl auch auf BOP die für ELO typischen Soundeffekte zu finden sind, ist es im Vergleich zu den Vorgängeralben weit weniger verspielt. Lynne experimentierte insbesondere mit Feedback, der Pitch Control, Noise Gates und Halleffekten aller Art. BOP ist das Album, auf dem Lynne mit Abstand den meisten Hall (Reverb) verwendet hat. Auf früheren Alben setzte er nur punktuell auf reverb (abgesehen vielleicht von TIME). Was er viel öfters einsetzte, war Slap Echo. Deswegen ist es auch schlichtweg falsch, Jeff Lynne’s ELO-Sound vor allem mit reverb zu verbinden.
Insgesamt ergibt sich eine eigenartige Atmosphäre, die meist Kälte, gelegentlich aber auch Wärme ausstrahlt. Ein Beispiel: Beschwingte Melodien werden mit depressiven Texten konterkariert. Lynnes Theorie, dass diese Ambiguität auch mit dem Wechsel vom sommerlichen Nassau in den kalten deutschen Winter zu tun hatte, ergibt durchaus Sinn. Insgesamt überwiegen aber frostige Sounds: Sorrow About To Fall, Without Someone, Caught In A Trap, Matter Of Fact oder Is It Alright knüpfen in dieser Beziehung deutlich an den TIME-Sound an. Dennoch und trotz einiger Gemeinsamkeiten unterscheidet sich der BOP-Sound insgesamt doch recht deutlich vom TIME-Sound (TIME hat ganz andere, entferntere Gesangslinien und Harmonien; klingt spaciger; es herrschen andere Keyboards mit anderen Klangwelten vor; die Atmosphäre von TIME ist surrealer usw.).

6. Die Songs

01 Heaven Only Knows
ist eine Hochgeschwindigkeits- Pop/Rock-Nummer. Textlich handelt sie laut Lynne „vom Bemühen, sich anderen Menschen gegenüber nett zu verhalten. Oder gegenüber Frauen, je nachdem, in welchem Kontext man es betrachtet“. Diese Bemerkung ist durchaus interessant, zeigt sie doch das Bemühen zur Abstraktion und Mehrdeutigkeit, damit der Song in vielen Kontexten anwendbar ist. Die alternative Version von HOK bezog sich noch definitiv auf eine Beziehung zu einer Frau.

02 So Serious
lebt vom Gegensatz zwischen dem traditionellen Rockinstrumentarium, dass die Basis bildet, und den darüber geschichteten Keyboards. Ein rhythmischer, schwungvoller Track. Der Backing Track mit seiner gut wahrzunehmenden Bongo-Perkussion tankt die Bahamas-Atmosphäre. Vielleicht der optimistischste Track des Albums. Wiederum wird die Interpretation dem Hörer überlassen: es geht um eine Beziehung auf unterschiedlichen Ebenen, je nach Kontext und Interpretation. Es kann sich nach Lynne um eine Beziehung zwischen Mann und Frau, guten Freunden oder gar Staaten handeln.

03 Getting To The Point
ist ein langsames Stück mit streicherähnlichen Synthies, das am ehesten an ältere ELO-Sachen erinnert. Nie hat Lynne mehr Hall (reverb) auf den vocals verwendet als bei diesem Stück. Sehr effektiv der Einsatz des Saxofons und die gewissenhaft ausgearbeiteten Gesangslinien und Harmonien. Textlich vielsagend heisst es „it’s getting to the point of no return“. Aus dem Bandumfeld hieß es desöfteren, dass Lynne dabei vor allem an seine Band gedacht hat. Der Gedanke, dass dies das letzte ELO-Album sein würde, war sicherlich da, obwohl Lynne natürlich nicht wirklich wusste, wie es weitergeht. Natürlich kann man auch diesen Text sehr vilseitig interpretieren und anwenden.

04 Secret Lives
ist textlich weniger flexibel zu interpretieren. Ein angenehmer Keyboard-Popper mit viel Tempo und Emotionen im Refrain.

05 Is It Alright
wird geprägt von einer frostigen Keyboardatmosphäre in den Strophen. Es folgt ein recht deutlicher Tempowechsel hin zum schnellgesungenen Chorus. Auch stimmlich bestehen große Unterschiede zwischen dem Strophengesang und dem vielstimmigen, tieferen Refraingesang.

06 Sorrow About To Fall
hat sehr offene Textzeilen und ist einer dieser Mid-Tempo-Songs mit toller Melodie und eiskalter Keyboardtmosphäre. Hinzu kommt der wirkungsvolle Saxofoneinsatz und das einfallsreiche fade-out.

07 Without Someone
Eine Ballade, auch im frostigen Klanggewand.

08 Calling America
Wieder temporeicher. Hier hört man besonders viele Halleffekte, Keyboardschichten, aber auch ein Gitarren-Solo. Von den Stücken auf BOP ist es das spacigste Stück. Schließlich geht es neben der offensichtlichen Geschichte in weiterem Sinne auch um Satelliten. Dazu Lynne: „Ich liebe Satelliten“.

09 Endless Lies
Die opernhaften vocals sind als Tribute an Roy Orbison gedacht. Produktionstechnisch ein sehr anspruchsvolles Stück mit Rhythmuswechseln. Im Vergleich zur 83er-Version hat sich nicht nur das Soundgewand geändert, sondern auch der Vorchorus und die Songstruktur. Die Songstruktur der neuen Version ist insofern interessant, als beim letzten Übergang in den Refrain der erste Teil, der Vorchorus, überraschend wegfällt.

10 Send It
Mit vielsagenden Textzeilen, so etwa „wenn du meinen Traum gesehen hast, schick ihn mir, auf welche Weise auch immer“. Was viele gerne übersehen: War auf SM noch Synthie- Rock n roll King, so versuchte sich Lynne hier, von Rockabilly der Marke Stray Cats beeinflusst, an einem weiteren innovativen Konzept: einem High-Tech-Rockabilly-Konglomerat. So wird das Schlagzeug mit Besen gespielt, dazu eine kaum zu hörende Gitarre und haufenweise High-Tech-Synthesizern.

Outtakes etc

Nach Rob Caiger füllen die alternative Songversionen und Mixes drei CD-Roms. Man könnte problemlos ein 5 CD-Boxset herausgeben. Neben einer Reihe Alternativmixes dürften sich eine Reihe von alternativen Songversionen mit anderen Brückenteilen darunter befinden. Und ich vermute auch einige komplett unbekannte Songs und Backing Tracks.

a) Songs

– Caught In A Trap (vgl. Remaster 2007)
Eine Songperle. Up-Tempo-Nummer mit zahlreichen Soundeffekten. Vielstimmiger Refraingesang. Allein dieses schnell gespielte, irre Keyboard/Pianosolo in der Brücke. Wow. Auch insgesamt sehr keyboardlastig. Ehemals B-Seite von Calling America.
– Destination Unknown (vgl. Remaster 2007)
Treibender Rocksong mit ungewöhnlichem Saxofoneinsatz. Das Saxofon treibt den Song quasi voran, ist nicht nur Soloinstrument oder Ausschmückung, sondern Teil des Basisriffs.
– A Matter Of Fact (vgl. Afterglow)
Ursprünglich B-Seite. Cooler rhythmischer Track mit genialem Keyboardbreak.
– In For The Kill (vgl. Remaster 2007)
Wo liegt die Grenze zwischen alternativer Version und anderem Song? In For The Kill hat mit Caught In A Trap große Teile des Backing Tracks gemeinsam, aber es gibt so viele Unterschiede, dass ein ganz anderer Song entsteht: der Text ist völlig anders; die Strophenmelodie ist komplett anders, auch das Fade-Out (sehr interessant, übrigens, spielt hier Jeff mit der Stimmhöhe). Dazu gibt es andere Brückenteile.

b) Alternative Mixes und Songversionen

– Heaven Only Knows (Alt. Version 1; vgl. Remaster 2007)
Beginnt mit einem Gebet, dann folgt der bekannte Chorus-Text ohne Rhythmusbegleitung. Bollernde Trommelschläge führen zum Strophengesang. Die Strophen sind komplett anders als bei der veröffentlichten Version. Es gibt auch andere Brückenteile. Insgesamt klingt das Stück etwas orbitaler. Neben der veröffentlichten Variante gibt es auch noch eine 3.26 lange, ungeschnittene Urversion mit zusätzlichen Brückenteilen (scheint gebootlegt worden zu sein).
– Heaven Only Knows (Alt. version 2)
Statt dem Gebet beginnt der Song mit den Textzeilen „It’s Half Past seven“. Insgesamt gibt es wohl vier deutlich voneinander abweichende Frühversionen bis zur Endversion von HOK.
– Secret Lives Alt. Take (Remaster 2007)
Arrangement und Gesang sind nicht sehr anders, aber der Take hat mehr Gitarre im Hintergrund und zusätzliche Backing vocals.
– Sorrow About To Fall (Alt. Version; „strings“)
Ein anderer Mix mit interessantem Synthiestreichermotiv um den Refrain. Ausserdem eine andere Strophe.
– Calling America (Extended Alternative Version)
Enthält zusätzlichen Teil nur mit Drumcomputern und Synthiklängen.
– Calling America Disco Version (Japan Promo 12″ Single)
Im Prinzip handelt es sich um den normalen Song, der künstlich verlängert wurde, indem einige Teile geloopt wurden.
– Destination Unknown (Alt. Version)
Es soll eine andere Version geben, bei an Stelle einiger Gesangsparts Gitarren erklingen. Insgesamt ist es ein anderer Mix. Ferner muss es eine längere Version geben mit zusätzlichen Strophen.
– Matter of Fact (Alternate lyrics)
Der Backing Track ist ziemlich identisch, aber die Melodieführung in den Strophen ist ebenso anders wie der Text. Verleiht dem Stück durchaus ein anderes Gefühl.
– Matter of Fact Early Mixes (I know that you know)
Es sind eine Reihe von frühen Mixes bekannt, die den Titel „I Know That You Know“ tragen. Das entspricht einer Textzeile in MOF. War wohl der Arbeitstitel.
– ELO Megamix

c) Soundbits

– Opening (vgl. Remaster 2007)
Das geplante Album-Intro. Befremdliche Synthiklänge werden immer lauter und vielschichtiger und leiten zu Heaven Only Knows über.

7. Fazit

Meines Erachtens ist BOP kein ideenloses oder gar lustloses Album (erst gegen Ende der Aufnahmesessions verging Jeff die Lust). Wie Lynne selbst sagt (vgl. Remasters-Edition), hat er viel und mit großer Freude mit neuen Effektgeräten experimentiert, was zu zahlreichen Ideen für das Album führte. BOP zeigt die übliche Weiterentwicklung von einem ELO-Album zum nächsten. Die Entwicklung des Sounds ging immer schrittweise vonstatten. Bei genauerer Betrachtung gibt es einige Neuansätze: Die Integration des Saxofons in den ELO-Sound bei Destination Unknown oder die Mixtur von Send It sind sogar richtig innovativ.
Mit neuem Management kam neuer Enthusiasmus, und das neue Album wurde mit TV Auftritten (z. B: Wogan, Montreux; Disneyland; American Bandstand; Solid Gold) intensiv beworben. Dazu gab es Livekonzerte: hervorzuheben ist die Beteiligung im März bei Heartbeat 86, einer Art Live Aid der Midlands. Hier stahlen ELO nach Ansicht fast aller mit einem beeindruckenden Liveset die Show. Es folgten noch eine Reihe von Konzerten im Vorprogramm anderer Künstler (Rod Stewart) bis Ende Juli. Sie waren als Tests für eine größere Tournee gedacht. Aber leider wurden ELO von den großen Konzertveranstaltern nicht gebucht. Wer weiss, viuelleicht wäre Jeff Lynne bei Erfolg nicht zu der Entscheidung gelangt, ELO ruhen zu lassen. Aber nun sah er sich in seinen Gefühlen, dass der Abschied nahte, quasi bestätigt. Das offizielle Ende wurde zwar nicht direkt verkündet, aber es war klar, dass Lynne erstmal alle ELO-Aktivitäten einstellte und zu neuen Ufern aufbrach…

QUELLEN
Ein zentrales zeitgenössisches Interview ist „Lyrically With Jeff Lynne“. Kommt selten vor, dass sich Lynne so ausführlich zu den Texten äußert. Bezüglich der unveröffentlichten Sachen sehr hilfreich sind die Lynne-Songdatabase und die 30. Ausgabe von FTM Germany. Ebenso nützliche Infos enthält Newsletter 147 vom Februar 2006. Das Booklet der Remaster Edition 2007 stellt zahlreiche Infos bereit. Einiges wurde auch über die mailing Liste Showdown bekanntgegeben. Ansonsten greife ich auf die üblichen Bücher und Internetseiten zurück, wie sie bei anderen Albenbesprechungen genannt werden.
UPDATES
– 11.08.07: Infos zu Synthies und Bonustracks ergänzt
– 07.05.10: Präzisierung des Aufnahmezeitraums aufgrund von Aussagen von Tom Thiel und Bev Bevan Blog
– 15.10.2011 Ergänzung von Informationen zu benutzten Keyboards aufgrund von glaubwürdigen Infos aus zweiter Hand
– 03.05.2012: Infos zur Albumentstehung präzisiert aufgrund neuester INfos aus erster Hand (Mack, März 2012)

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