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Platte ist insofern was Besonderes für mich, weil sie meine erste Stones-LP war, die ich bei Erscheinen mitbekommen habe. Die erste Single war „Angie“, tja. Ein vier Jahre älterer Spielkamerad in der Straße erzählte mir, man könne „Silver Train“, die B-Seite, nur richtig hören, wenn man eine bestimmte Musikanlage mit ganz besonders eingestellten riesigen Boxen besäße, die einen bestimmten im Song verborgenen Soundeffekt erst zur Geltung bringen würde, oder sowas. Total herbeifantasierter Quatsch, den ich als 12-Jähriger natürlich glaubte. Die erste Platte der Stones, die ich kennenlernte, war „Rolled Gold“, glaube ich, oder so eine nachträglich auf den Markt gebrachte Decca-Single von „Satisfaction“ mit „The Under Assistant West Coast Promotion Man“ als B-Seite. Ich brauchte mehrere Jahre, um herauszufinden, was „Under Assistant West Coast Promotion Man“ bedeutete. Egal.
Mein LP-Exemplar von „It’s Only Rock’n Roll“ hat eine Welle, auf der die Nadel hüpft, als würde sie für den Super-G trainieren. Hoffe, es geht gut. Ist aber nicht mein damals selbst gekauftes Exemplar – das ist längst wieder verkauft – sondern eins, das ich meinem Schwager vor einigen Jahren abgeschwatzt habe.
Side 1
1. If You Can’t Rock Me ****
Gefällt mir in seiner Grundstruktur gut, wer hätte das gedacht. Watts findet einen überzeugenden Groove mit dem kurzen Break mittendrin. Auch der Part mit den „lovely Ladies“ treibt schön mühelos nach vorne. Das Interlude mit dem Bass-Motiv, um das sich die Gitarre schlängelt, dann das anschließende kurze Solo (Richards?) sind auch gelungen. Jagger bereitet mir hier ein paar kleinere Sorgen, weil er mir wieder ein bisschen zu übertrieben singt: „The drummer thinks he’s dynamite –ah, uh ye-ah!”, diese Verziehrung am Ende des Verses finde ich unnötig, auch wenn’s sicher ironisch gemeint ist, also eigentlich dadurch wieder Sinn macht. Das sind aber nur kleine Mäkeleien eines ansonsten spannenden Stücks Musik. Auf „It’s Only Rock’n Roll“ hat Jagger ansonsten seine Manierismen größtenteils gut im Griff, oder sie sind besser eingesetzt, wie im Titelsong. Überhaupt zeigt die ganze Platte ihn als überzeugenden und variablen Sänger.
2. Ain’t Too Proud To Beg ****
Mit den Temptations haben die Stones irgendwie ein Ding am Laufen. Wie mit „Just My Imagination“ vier Jahre später gelingt ihnen auch hier eine gute Interpretation. Auf Rock gebürstet aber mit diesem upliftenden Gefühl, das viele Motown-Songs charakterisiert. Und der Richards‘sche voll durchgeschrängte G-Akkord ist wirklich toll. Ebenso der Synthie, der sich da noch ins Schrängen mischt. Sowieso hört man an vielen Stellen der Songs die Sorgfalt, die die Stones in die Platte gelegt haben müssen. Was umso erstaunlicher ist, weil Richards möglicherweise ab und an nicht anwesend war und Jagger zusammen mit Mick Taylor einen Teil der Songarbeit wuppen musste. Was letzterem aber keine Credits einbrachte… (siehe den sehr lesenswerten und kenntnisreichen Track-By-Track-Kommentar von j.w.)
3. It’s Only Rock’n’Roll (But I Like It) *****
Ich weiß nicht, welcher Schlagzeuger hier spielt, aber falls es tatsächlich Charlie Watts sein sollte, ist das mit Abstand das Eleganteste, was ich von ihm kenne. Ein Rhythmusuntergrund von erlesener, federnder Brillanz, gleichzeitig leicht und schwer. In seiner Gesamtheit mit Bass und Rhythmusgitarre eine total meisterhafte Groove-Legung, die ich so vielleicht eher der Hausband von Hi-Records oder Muscle Shoals zugetraut hätte. Eben so lässig in a southern-style. Also hoher Respekt, wer immer auch daran beteiligt war. Überhaupt ein toller Song, der sich auch mit der Erwartungshaltung des Publikums und der (zunehmenden?) Genervtheit des Protagonisten beschäftigt.
4. Till The Next Goodbye *****
Wäre auch ein Höhepunkt auf “Sticky Fingers” gewesen. Die Slide ist wirklich toll, ebenfalls die akustische Gitarre, ich kann sowieso keinen Schwachpunkt erkennen. Für mich auch eine der besten Gesangsleistungen Jaggers.
5. Time Waits For No One *****
Wieder ein guter selbstreflexiver Song. Tolle Umsetzung auch mit den tickenden Drums. Mick Taylor hat eines seiner besten Solos überhaupt, weil er das Zeitthema irgendwie schafft zu transzendieren. Ich bilde mir ein, aus seinem Solo sogar einen Kommentar herauszuhören, dass das Vergehen von Zeit unterschiedlich schnell empfunden wird bzw. Zeit mit zunehmendem Alter schneller vergeht. Irre, sowas mit einem Gitarrensolo ausdrücken zu können!
Side 2
1. Luxury ****
Hübsches kleines Lied. Jagger singt sehr offen, als würde er Atem- und Stimmapparat maximal entspannen. Ich kenne keinen Song, wo er ähnlich klingt. Schön ist die Freundlichkeit, mit der der Songs rollt, obwohl das Thema ja eher nicht so freundlich ist. Kleine melodische Schlenker werden außerdem verbaut. Das Gitarrensolo ist ein bisschen ideenarm. Reggae-Anleihen wie j.w. sie hört, kann ich nicht erkennen, höchstens im gleichförmigen Flow.
2. Dance Little Sister **
Recht ideenloser Boogie-Rock. Nichts für mich.
3. If You Really Want To Be My Friend *****
Ganz bezaubernd. Tolle Gesangsunterstützung von Blue Magic (wer ist das?). Hat so eine Stimmung, die mich an meine heimliche Lieblingsplatte von Dr. John erinnert, nämlich an „City Lights“. Wenn so Studiocracks in L.A. einen entspannten und inspirierten Abend im Studio haben und danach noch in gepflegter Ambiente einen Drink nehmen. Weiß auch nicht, warum ich das so assoziiere.
4. Short And Curlies ***1/2
Wollte ich eigentlich in der Luft zerreißen, finde ich aber als kurzen Zwischensong zwischen den 6-Minütern gelungen. Hat was Aufheiterndes, eine kleine verdiente Erfrischung zwischen Soul und begründeter Paranoia.
5. Fingerprint File *****
Ich weiß nicht, ob Jagger hier nur eine Rolle spielt wie beim Midnight Rambler, oder ob der Song auch Erlebtes verarbeitet. In seiner New Yorker Zeit Mitte der 1970er hat er zumindest eine kurze Zeit mit Lennon zusammengearbeitet, der ja auf jeden Fall unter Beobachtung stand. Das über Jagger eine Akte bei den amerikanischen Behörden existierte, halte ich für wahrscheinlich. Für Richards sowieso. Aus der Quelle des Getriebenseins (von den Erwartungen des Publikums, von den Behörden, den Drogenfahndern, dem Älterwerden, der allgemeinen musikalischen Entwicklung) schöpfen sie in den 1970ern sowieso viel Kreativität, siehe auch „Some Girls“, „Shattered“, „Before They Make Me Run“, „It’s Only Rock’n Roll“, „Time Waits For No One“, eigentlich auch „Coming Down Again“ als sehnsuchtsvoller Gegenpol. Die Paranoia inszenieren die Stones auf „Fingerprint File“ jedenfalls sehr überzeugend. Einer ihrer stärksten Songs überhaupt. Ein kriechender, brummender Funk, der dich instinktiv aus dem Straßenlaternenlicht zieht. Und wenn nicht sowieso klar wäre, dass es schon immer eine geheimdienstliche Überwachung von Individuen gegeben hat – technisch immer auf dem neuesten Stand – könnte man den Song aktueller kaum nennen: „These days it’s all secrecy and no privacy“. Man müsste nur die Wahl der technischen Mittel anpassen, dann könnten die Lyrics 1:1 von heute stammen. Könntest du bitte nochmal erklären, welche Gitarre Jagger spielt, j.w.? Diese abgehackte, die manchmal kleine Splitter in den Song wirft, um sich vor den Verfolgern einen Vorsprung zu verschaffen?
Fazit: Bin überrascht, wie gut das Album noch ist. ****1/2
Sorry, ist ein bisschen sehr lang und schwafelig geworden.