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The Rolling Stones – Tattoo You (1981)
1. Start Me Up **
Setzkasten-Rock. Designed für Pyrotechnik und Eröffnung von Stadion-Gigs („Start Me Up!!“ -*puff* …). Und so kam es dann ja auch. Vorbei war die kurze Zeit eleganten Krachs, die Fans hatten hier wieder den sicheren und aufgeräumten Riff-Kram. Jagger übertreibt mit den Verziehrungen („Start me upahh“) und presst einige Male so voll Rocktier-mäßig. Das klang alt, als es rauskam und ist seitdem nicht jünger geworden.
2. Hang Fire *1/2
Nichtsagender Rocker, bei dem mich jedes gesungene und voll mit toughem Verve zuende gestöhntes „Hang Fire“ nervt. Und sie singen es oft, sehr oft. Viel zu oft. Das ständige „düdüdüpdüp“ macht’s auch nicht besser, nämlich schlechter. Den halben Stern gibt es für die Kürze des Stücks.
3. Slave ****
Schön lasziv schleppender Backing-Groove aus vergangenen „Black & Blue“-Zeiten, als Billy Preston noch mitmischte. Läuft sympathisch so durch. Der Track ist zwar etwas zu lang, aber sie schaffen’s doch, ihn interessant zu halten, z.B. indem Sonny Rollins sein beseeltes Sax drüberbläst und irgendjemand noch ein okayes und flüssiges Gitarrensolo draufspielt. Auch die Rhythmusgitarre gefällt mir in ihrer Reduziertheit. Jagger singt den Schlüsselsatz, der 99% der Lyrics ausmacht, ein bisschen sehr oft in seiner Falsettstimme ein und saugte sich zudem noch ein, zwei Sätze aus den Fingern. Passt schon. “Slave” hätte „Black And Blue“ prima aufgewertet.
4. Little T & A **1/2
„She’s my little rock and roll, ah, ah, ah, oh, oh, oh, she’s my little rock and roll, Baby“. Ja ja, die Säfte pumpen, die Spione spionieren, die Huren huren. Damit erschöpft es sich auch schon. Warum soll ich das gut finden? Weil Onkel Keith es singt? Darunter dann ein schnellerer Richards-Rock gelegt, den ich schon besser gehört habe, zum Beispiel auf den beiden Platten davor.
5. Black Limousine **
Schema-F-Boogie-Blues mit Schema-F-Solo und Schema-F-äh…Rest. Ich weiß nicht, welche unheimlich großartigen Licks Ron Wood dem ein oder anderen Blueser und Slide-Gitarristen abgeschaut hat will, aber sie gehen unter im Blues-Klischee. Mich interessiert sowas nur dann eventuell, wenn da noch irgendwas Spannendes hinzukommt. Meinetwegen eine dekonstruktivistische Soundidee, eine billige Stumpfheit oder sonstwie etwas Rohes, Verrücktes und Dunkles. Vielleicht hätten sie nach und nach alle Bandmitglieder mit Mitgliedern von Pussy Galore austauschen und sich dann Jon Spencer Blues Explosion nennen sollen. Dann hätten sie vielleicht auch aus Schema F was tolles herausgeholt.
6. Neighbours ***1/2
Gute Güte, die Drums kommen ziemlich sehr bollerig, aber bei den Rockern hier ist der Einäugige König. Lärmt ganz unterhaltsam, hat auch eine schöne Bridge (oder ist es eine Hook?). Egal. Gefällt und macht Spaß.
7. Worried About You ****1/2
Toller Song. Um den wäre es wirklich schade gewesen, wäre er in den Archiven verschwunden. Und hätte „Black & Blue“ nochmal aufgewertet, wenn sie stattdessen beispielsweise „Crazy Mama“ weggelassen hätten. Leider setzte sich Jagger offensichtlich in den Kopf, jeden der schmooven Tracks auf „Tattoo You“ seine Falsett-Medizin zu verabreichen, die allerdings auf Dauer ein ungünstiges Nebenwirkungsprofil hat. Hier geht es aber ganz gut, weil der Gemeinschaftsrefrain dann einen schönen Gegensatz dazu herstellt. Toll auch die Stelle, wo der Song nochmal Schwere aufnimmt – „Yeah, I’m a hard workin‘ man, yeah, when did I ever do you wrong? …”Rundum gut.
8. Tops ****
Wieder ein Überbleibsel aus ferner Zeit. Vielleicht so wie der Ziegenfuß auf dem Inlay, der nicht mehr in den Topf mit der Ziegenkopfsuppe gepasst hat. An sich ein vielversprechender Song mit einem schönen Refrain, aber ich mag nicht, wie Jaggers Stimme so im Vordergrund steht. „Don’t let the world pass you by“ ist eine schöne, treibende Stelle, die sich sogar noch steigert. Dann aber kommt leider irgendwann wieder das nervige Jagger-Falsett. Ich kann mich nicht recht zwischen 3,5 oder 4 Punkten entscheiden.
9. Heaven *****
Der metaphysische Himmel (engl. Heaven im Gegensatz zum physikalischen Sky) als geografisch nicht festzumachender Sehnsuchtsort, für den man das Ticket nur gemeinsam mit der Liebe lösen kann. Irgendwie ist „Heaven“ für die 80er-Stones, was „Moonlight Mile“ für die 70er-Stones war und „2000 Light Years From Home“ für die 60er-Stones. Dort wurden die Mondlichtmeilen und Lichtjahre gezählt, die sie vom herbeigesehnten Ort trennten, was ich jetzt einfach mal als eine metaphysische Entfernungsangabe interpretiere. Nicht fassbare Sehnsuchtsorte jedenfalls allesamt.
Musikalisch wird bei „Moonlight“ und „2000 Light Years“ besonders in den Outros die Sehnsucht und dessen Ziel nochmal gesanglos durchgekostet. „Heaven“ besteht eigentlich vollständig aus so einem Outro, ein vierminütiges Sehnen nach einem geschichtslosen Ort, einem süßen Nichts. Trotz oder wegen seines nicht zu greifenden Charakters ist es das einzige Stück auf „Tattoo You“, bei dem ich das Gefühl habe, es reflektiert die Situation, in der sich die Band Ende 1980/Anfang 1981 befand, kurz nach „Emotional Rescue“: Eine neue Tour stand an, ein neues Album musste her, die Band hatte aber kaum aktuelle Songideen und verfiel deswegen darauf, Jahre alte Basic Tracks zu nehmen und zu vervollständigen. Man spielte quasi mit einem Phantom, dessen Teil man selber mal gewesen war. Manchmal war den Beteiligten gar nicht mehr klar, wovon die Songs eigentlich ursprünglich handelten. Die Arbeit an „Tattoo You“ muss daher befremdlich gewesen sein, so in der Konfrontation mit vergangenen Zeiten. Ich bezweifle, dass überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt alle Beteiligten beim Erweitern der alten Basic Tracks zugegen waren.
„Heaven“ zeigt genau so eine versprengte Situation, mit dem einen Unterschied, dass keine Konserve zugeschaltet ist. Hier ist alles Echtzeit, vollständig eingespielt Ende 1980 von ein paar verlorenen Gestalten. Also wirklich real stuff ohne Auffangnetz aus glorreichen 70er-Zeiten. Die Stones bestehen auf „Heaven“ nur noch aus Charlie Watts an verhaltenen Drums, Bill Wyman am Synthie und Bass, Jagger an durch Phasereffekte stark verwischter Gitarre und Chris Kimsey am Piano. Und es ist erstaunlich, dass aus dieser realen Situation so ein irreales Song-Setting entstanden ist. Jaggers Stimme ist mehr Sound als Wort, wird körperlos in den irisierenden Sound eingesogen und wieder ausgeatmet. Sie hebt und senkt sich, „kissing and running“.
„Heaven“ wird quasi alles entzogen, was auf „Some Girls“ und „Emotional Rescue“ noch von Bedeutung war: Watts songprägende Disco-Drums, die scharfen, sonisch verknäuelten Gitarrenfiguren von Richards, Wood und Jagger, Jaggers Gegenwartstexte. Für mich fängt „Heaven“ diese unsichere Situation ein. Alles hängt irgendwie in der Luft, ziellos, wie die Band zu dem Zeitpunkt eben auch. Deswegen musste sie sich für das Album ja ihrer eigenen Vergangenheit bedienen.
„Tattoo You“ zeigt also, wie die Stones aus kreativer Not heraus an alten, unfertigen, aus ihren zeitlichen und geschichtlichen Zusammenhängen gerissenen Aufnahmefragmenten arbeiten. „Heaven“ zeigt dagegen eine Sehnsucht nach einem zeit- und geschichtslosen Ort, wo keines der alten Bänder mehr im Hintergrund läuft. Es schaut nach vorne, nicht nach hinten. Die Stones setzen sich mit „Heaven“ quasi auf Null – und hätten sich von da aus künstlerisch neu formatieren können.
Stattdessen kamen künstlerische und persönliche Zerwürfnisse und Trennungen, Sendepausen und Best-Of-Welttourneen. Musikgeschichte wurde nur noch selten zu schreiben versucht, stattdessen wurde der Songfundus der Stones auf der Bühne als Oldie-Parade reproduziert. Neue Studioaufnahmen spielten eine immer kleinere Rolle. Die Intervalle zwischen den Alben wurden länger, neue Songs wurden in Best-Of-Zusammenstellungen platziert, um einen Kaufanreiz für die alten Fans zu bieten. Jagger komponierte Songs im Hinblick auf ihre Tauglichkeit als Bestandteil von Stadion-Gigs („Don’t Stop“). Ihren himmlischen Ort haben sie endgültig auf der Bühne gefunden. Für mich ist „Heaven“ ihr letzter großer Song.
10. No Use In Crying ***1/2
Das schleppt sich aber dahin, mit etwas zu präsenten Drums für meinen Geschmack. Dass der Jagger aber auch bei allem sein Falsett reindrücken muss. Ts. Hat aber hübsche Ideen, mit den Schleichern aus der Prä-„Some Girls“-Phase kriegen mich die 70er-Stones eigentlich immer. Mit „Heaven“ ist aber eigentlich das Schlusswort zu „Tattoo You“ geschrieben.
11. Waiting On A Friend ****
Schöner Nachklapp, mit einer tollen Zeile: „Standing on a doorway/ Trying to make sense“. Richards wusste nicht mehr, worum es eigentlich in dem Song ging, als er es von Kimsey auf Wiedervorlage gelegt bekam. Ich weiß auch schon nicht mehr, worum es in „Tops“ eigentlich ging. Aber „Heaven“ kenne ich noch: „No one will bar you/ Nothing will stand in your way/ Nothing/ There’s nothing“. Mit “Tattoo You” ging meine Stones-Zeit zu Ende.
Fazit: ***1/2
Hoffe, die Auslassungen über „Heaven“ sind nicht zu halbgar. Ich bin da selbst auch nicht ganz mit durch. Ich spürte aber schon damals bei Erscheinen, dass ich mich mit „Tattoo You“ von den Stones verabschieden würde. Irgendwie hat sich deswegen für mich eine gewisse Trauer auf das Album gelegt, die ich auf „Heaven“ projiziert habe. Nichts für ungut.