Re: Die Orgel im Jazz

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gypsy-tail-wind
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Trotz des widerlichen Namens dieses Threads (hat mich schon monatelang davor abgehalten, hier zu posten) hol ich ihn aus aktuellem Anlass mal wieder hervor…

Es ist heute ja sehr selten, Grössen der Hammond Orgel live zu erleben. Vor ein paar Jahren hat mich die Gruppe von Dr. Lonnie Smith schon mal einen Abend lang so richtig durchgeschüttelt. Der Sound einer mit voller Power gespielten Hammond Orgel mit (am besten mehreren) Leslies, mit Bass von den Fuss-Pedalen etc… das ist schon was einzigartiges!

Gestern hatte ich das Glück und Vergnügen, einem mehr oder minder privaten Konzert von Rhoda Scott beiwohnen zu dürfen. Sie hat im Sommer am Jazzfestival in St. Moritz gespielt (Fotos hier) und wurde nun zu einem speziellen einzelnen Konzert nochmal eingeladen. Scott ist seit fünfzig Jahren aktiv und hat mit fast allen Jazz-Grössen gespielt. Neben Dr. Lonnie Smith ist sie wohl die einzige noch aktive aus dieser Generation.

Die Musik hat mich ziemlich umgehauen, weggeblasen… zwei Leslies dröhnten, Scott brachte alles, vom Geflüster („Summertime“) bis zum full blast, etwa in „New York, New York“, wo anfangs meine cheesy-Sensoren anschlugen, aber das trieb sie dem Stück spätestens nach einer Minute gehörig aus!
Da das Publikum kein Jazzkonzert-Publikum war (und die Atmosphäre auch gar nicht – man stand, trank, ass Häppchen) hat sie – so hat sie mir nach dem Konzert erzählt – das Repertoire ein wenig angepasst. Eben „New York, New York“ oder später auch noch „In the Mood“. Dazwischen gab’s aber auch Jazz-Klassiker wie „Walkin'“ (von der Richard Carpenter Story schien sie noch nie gehört zu haben!) und „Bye Bye Blackbird“.
Der junge französische Drummer Thomas Derouineau begleitete sie sehr druckvoll und angemessen und glänzte selbst mit ein paar Solo-Einlagen und dem einen oder anderen rhythmisch vertrackten Trick.

Eine Wucht, das ganze – eine echte Naturgewalt!

Nach dem Konzert ging ich zu Scott hin, sie stand an der Bar in der Ecke, und bedankte mich für die tolle Musik, es ergab sich, dass wir uns länger unterhielten, zwischendurch auch mit Derouineau (eine Herausforderung, da er nur Französisch spricht und meins ziemlich eingerostet ist) und sie hat mir auch eine CD mit Widmung versehen, die ich extra mitgebracht hatte (peinlich, ich weiss – aber das war überhaupt das allererste Mal, dass ich mir von jemandem was signieren liess… nein, stimmt nicht, als Knirps hat mir Greg Lemond mal ein Poster signiert). Ja, und dann schenkte sie mir noch die neue „Lady Quartet“ CD (mit Sophie Alour – ts, Lisa Cat-Berro – as, Julie Saury – d). Die läuft jetzt gerade, aber es wird mir – wie schon nach dem Konzert von Lonnie Smith – wieder klar, dass man Hammond auf Tonträger nur halbwegs adäquat erleben kann, da die physische Komponente wohl erst zum Tragen käme, wenn auch die Nachbarn schon alle versammelt vor der Tür stünden, um sich über den Lärm zu beschweren…

Es stellte sich dann heraus, dass Scott anschliessend auch zum Nachtessen ins Restaurant nebenan ging, also verbrachte ich die nächsten drei Stunden damit, mich mit ihr, Thomas und Scotts Tochter (die als Managerin mit dabei ist) zu unterhalten. Ein grossartiger Abend, den ich nie mehr vergessen werde!

Ich will hier nichts preisgeben, was sie mir in diesem privaten Rahmen erzählt hat, nur soviel, dass sie zu fast jedem Namen, den ich nannte, etwas zu erzählen hatte, eine Episode, als sie zusammen spielten oder ähnliches. Joe Thomas, der Saxophonist, mit dem sie in frühen Jahren in den USA spielte (er ist auf Aufnahmen in den frühen 60ern zu hören), habe nach ihrem Weggang zu spielen fast ganz aufgehört, 1971 holte sie ihn ja dann nochmal nach Paris, Zeugnis legt das schöne Album „Rhoda Scott Live at the Olympia“ ab (auf CD in der Jazz in Paris Reihe von EmArcy/Universal France).
Und sehr anrührend war – dies das letzte aus dem Nähkästchen – was sie über ihr letztes Konzert mit Johnny Griffin erzählt hat (der lebte, wie ich verstand, ganz in der Nähe – er war jedenfalls, das weiss ich, auch schon seit vielen Jahren in Frankreich wohnhaft). Üblicherweise habe er nur für ein paar Stücke mitgespielt, ein zweiter Saxophonist sei dabeigewesen, Griffin zwischendurch hingesessen, um sich zu erholen, aber an diesem Konzert einige Tage oder Wochen vor seinem Tod, habe er ALLES mitgespielt, bei jedem Stück längere Soli gespielt… als hätte er gespürt, dass das sein letztes Mal war. Ich musste fast weinen, als sie mir das erzählt hat, da Griffin zu meinen absoluten Lieblingsmusikern gehört.

In diesem Sinne: lang lebe Rhoda Scott! Rhoda rules!



Noch eine lustige Story zur Orgel: im – angeblich neuen – blauen Kasten steckte eine alte B3, Baujahr ca. 1960. Beim Soundcheck am Nachmittag habe die Orgel keinen Ton von sich gegeben, wohl wegen der Kälte. Zwanzig Minuten mit Haartrocknern haben dann Abhilfe geschaffen…

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