Re: Musikalisches Tagebuch

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sokrates
Bound By Beauty

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Go1Stichwort: „Arroganz“. Was an Deinem Statement auf manche Mitleser (mich zum Beispiel) arrogant wirkt, ist dies: Du unterstellst denen, die The Velvet Underground & Nico schätzen, sie seien Konformisten, die irgendwelchen Meinungsführern folgen, während Du Dich selbst als mutigen Selbstdenker darstellst, der endlich einmal sagt, was die anderen „nicht auszusprechen wagen“. Und Du schließt umstandslos von Dir selbst auf andere: Da Du selbst auf der Platte nur „Vollschrott“ hörst, kann ja niemand dabei ein Kunsterlebnis haben oder echte Begeisterung empfinden – die VU-Fans reden sich das ein, weil sie „einen Diener vor der Geschichte machen“ und meinen, sie müssten diese Platte gut finden. Da kann man nur sagen: Sprich für Dich selbst und nicht für andere. Plausibler ist: Die anderen sprechen das, was Du sagst, deshalb nicht aus, weil sie Deine Probleme mit diesem Album einfach nicht haben – weil sie ganz andere Dinge darin hören und dabei empfinden als Du. Du hast es versäumt, die Hypothese in Betracht zu ziehen, dass Du selbst an diesem Kunstwerk scheiterst, weil Deine Vorlieben und Maßstäbe ihm nicht angemessen sind (perfekter Gesang, handwerkliche Gediegenheit, ungebrochener Wohlklang oder was auch immer).

Weder eine große Stimme noch eine Gesangsausbildung sind Voraussetzungen für Popmusik. Lou Reed war ein cooler Hund mit eigenem Stil, der etwas zu sagen hatte und gute Songs schreiben konnte, die andere nicht geschrieben haben – und die Songs, die er geschrieben hat, werden nicht besser, wenn jemand wie Roy Orbison sie singt. John Cale hat vorgeführt, dass sich die Mittel der Avantgarde dazu nutzen lassen, einen Popsong spannender, aufregender und ausdrucksstärker zu machen. Atonalität, Lärm, Geräusche, Repetition im Zusammenhang eines Songs oder über einem Groove sind eben etwas anderes als Atonalität, Lärm, Geräusche, Repetition pur und für sich genommen. Moe Tucker hat dazu beigetragen, die Band unverwechselbar zu machen. Und Nico sorgt für ihre eigene Art von „dunkler Romantik“, wie Irrlicht sagt. Das alles ergibt ein Album, das auch heute noch all jene erfreut und inspiriert, die dafür aufgeschlossen sind.

Meine Begegnung mit diesem Album liegt schon ein paar Jährchen zurück. Erstmals „Heroin“ zu hören, war ein unglaublich intensives Erlebnis – es hat meine Vorstellung davon, was „gute Musik“ sein kann, so komplett umgewälzt wie kaum ein Stück davor oder danach.

Naja, erstmal machst Du einen beliebten Logikfehler: Ein Schluss bedeutet nicht, dass der Umkehrschluss gültig ist. M.a.W. Die Voraussetzungen sind vor Dir, nicht von mir. Das hätte ich nie so formuliert. Tatsache ist ferner, dass das Meinungsführerprinzip nicht so stark untersucht worden wäre, wenn es nicht so machtvoll wirken würde. Auch Du bist nachgeboren und hast VU bestimmt nicht „damals“ bei Erscheinen gehört, sondern unter der Wirkung einer sorgfältigen Einführung von irgendwem – aber dass sie glühend war, dürfen wir annehmen. Niemand, der hier unterwegs ist, geht unvoreingenommen an Musik heran, alle, oder doch die meisten, lesen brav den Stone. Abgesehen davon argumentierte ich nur für mich (der Doc fragte mich, wie mir die Platte beim Wiederhören gefallen hätte, remember?), und der zu erwartende, fundamentale Rundum-Widerspruch (den wir bereits vor knapp 10 Jahren im VU-Sternethread hatten, mit etwa ähnlichem Verlauf) hat ein weiteres Mal die Frage ausgelöst, wie es eigentlich kommt, dass so viele Leute eine Platte gut finden, die soviele offenkundige musikalische Schwächen hat . . .

Wie auch immer: Möchtest Du mir Eska abkaufen? Du hast im Thread geschrieben, dass Du sie gut findest. Wenig gehört, gut erhalten. Falls ja, gern PN.

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„Weniger, aber besser.“ D. Rams