Re: Rufus Wainwright

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nikodemus

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Das meint der/die/das Spex zur „neuen“ Platte

»Auch die großen Gefühle der Oper, die oft als übersteigert abgetan werden, kommen mir eher in die Gegenrichtung aufs äußerste reduziert vor, auf das Archetypische der Gefühle verdichtet, nicht mehr weiter in ihrer Essenz konzentrierbar.« (Werner Herzog, Camisea, 14.04.1981)
Die Oper ist ein im Pop-Musik-Journalismus eher unterrepräsentiertes Sujet. Und würde sich nicht der kalifornische Songwriter Rufus Wainwright seit 1998 und drei hervorragenden Alben immer wieder auf sie beziehen, wäre es um ihre Aufmerksamkeit sicher noch schlechter bestellt. Man muss Co-Produzent Lenny Waronker, Arrangeur Van Dyke Parks, Produzent Marius DeVries und vielen anderen, die Wainwright die Realisierung seiner Alben ermöglichen, dafür dankbar sein, dass sie diesen durch keinerlei ökonomische Kosten- und Nutzenrechnung zu rechtfertigenden Aufwand betreiben, um Rufus in seinen Gefühlskonzentrationen zu unterstützen.
Gegenüber der zweiteiligen »Want«-Serie (»Want One« erschien im vorletzten Jahr) wirken die beiden Vorgängeralben allerdings fast schon spartanisch, obwohl auch dort nicht mit Streichern, barocken Arrangements und erlesenem Personal gespart worden ist. Nach Schreibblockade, Drogenentzug und anschließendem Kreativitätsschub konnte Rufus für »Want One« + »Want Two« dagegen die richtig große Inszenierungsmaschine in Gang setzen. Und Wainwrights Musikalität ist wirklich jeden Cent wert: Wer sonst schreibt solche Songs, wer sonst hat sich den Kontext der »klassischen« Oper so zunutze gemacht, der im Pop ein No-Go ist, zumindest wenn er professionell betrieben und nicht nur als grelle Zutat verwendet wird, wie z. B. im Film »Moulin Rouge«? Für eben diesen Soundtrack hat Queen Rufus dann aber trotzdem einen Song beigetragen, weil solcherart Überhöhungen und blendende Künstlichkeiten eben doch in ihm stecken. Auf »Want Two« nehmen sie Gestalt an in ungefilterten Fantasien über die Ankunft des »Gay Messiah« (»He will then be reborn/From 1970’s porn/…/He will fall from the star/Studio 54«), die er vielleicht gar nicht nur ironisch herbeisehnt – und dessen Text allemal den Great Explicit Lyrics Award verdient hätte, wie auch der Song selbst den Great Explicit California Songwriting Award. Oder die Künstlichkeiten manifestieren sich im Narzissmus wie in »Waiting For A Dream«: »Yesterday I heard they cloned a baby/Now can I finally sleep with me?« Was aber noch mehr zählt, ist die Ernsthaftigkeit und Leidenschaft, mit der Wainwright seine exzeptionelle Mischung aus bilderreichem, amerikanischem Songwriting der Van Dyke Parks-, Jeff Buckley- und Beau Brummels-Schule mittels Operndramatik vorantreibt.
Wie andere große Komponisten weiß auch er um den Effekt, der entsteht, wenn ein verflochtenes Arrangement in ein einfaches Piano-Thema ausläuft, welches damit die Erinnerung des ganzen Songs in sich aufnehmen kann, ohne ihn wirklich fortführen zu müssen. Diese Kunst übernimmt auf »Want Two« nicht ein Teil des Songs für den Song, sondern ein Song für das ganze Album: »The Art Teacher«, die Geschichte einer unerfüllten Liebe einer Schülerin zu ihrem Kunstlehrer (»He asked us what our favorite work of art was/But never could I tell him it was him«), live am Piano in Wainwrights typischem Erzählfluss vorgetragen, gerät somit zum Herz des Albums, vielleicht sogar zu seinem Schlüsselsong. Überhaupt ist »Want Two« das herausragende Beispiel für Wainwrights speziellen Song- und Gesangsfluss, dessen Aufbau nicht gleich in Refrains mündet, und damit die Spannung löst, sondern diesen Moment hinauszögert, ihn manchmal mit in den nächsten Track nimmt, ohne dass das jetzt groß konzeptionell ausgelotet wird.
»Want Two« ist voll von diesen langgezogenen Dehnungen und Überbrückungen, mit denen die süße Erlösung vorbereitet und erst mal verweigert wird, die ich herbeisehne, mit angehaltenem Atem, bis sie kommt, in einem gewaltigen Arrangement, einem dramatischen Chor (wie im letzten, dem Drama würdigen Abschluss »Old Whore’s Diet«), einer Steigerung, die das Versprechen des Songs fast immer tatsächlich auch einlöst und mich dann glücklich zusammensacken lässt.
Und damit kommt niemand sonst im Kontext der Pop-Musik dem so nahe, was Filmregisseur Werner Herzog anfangs beschreibt: den großen Opernladen zu nutzen, um Musik in ihrer Intensität so zu fokussieren (ein Kuss versteckt sich hier), bis sie die Tränen aus den Augäpfeln drückt. »Nicht mehr weiter in ihrer Essenz konzentrierbar«. Und niemand sonst schreibt dazu derartig bewegende Songs. Niemand sonst. Niemand.

Quelle: Spex.de (W.Ahrensfeld)

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